Bis ich dich finde
können, Jack.«
Das Essen war sehr gut, und Jack hatte Hunger; daß keine Musik lief,
schien merkwürdig, aber für Musiker ist Musik niemals Hintergrundmusik.
»Dein Vater war sehr religiös«, erzählte ihm Ingrid, als er ihr
half, das Geschirr abzuwaschen. »Es ist schwierig, in einer Kirche Kirchenmusik
zu spielen und es nicht zu sein, obwohl ich es nicht war. Ich bin religiöser
geworden, als ich mich wieder aufs Klavierspielen verlegt und nicht mehr in der
Kirche gespielt habe.«
»Inwiefern war er sehr religiös?« fragte Jack.
»Als Andreas und deine Mutter mir weh getan hatten, hat William mir
etwas gesagt. Er hat gesagt: ›Finde einen Menschen; widme dich ihm; bekomme ein
Kind oder Kinder; preise Gott.‹ [767] Nicht, daß es bei mir je so gekommen wäre.
Aber das hat William zu mir gesagt, daran hat er geglaubt. Tja, die Kinder habe
ich bekommen, und ich preise Gott. Das war mir genug.«
»Sie sind also auch religiös?« fragte er.
»Ja – aber nicht so wie dein Vater, Jack.«
»Erzählen Sie mir mehr über seine Religiosität«, sagte er.
»Nimm zum Beispiel deine Mutter«, sagte Ingrid ein wenig ungeduldig.
»Dein Vater hat ihr verziehen. Ich nicht.«
»Er hat ihr verziehen?«
»Einmal hat er zurückgeschlagen, aber das ist ins Auge gegangen. Ich
glaube nicht, daß er es noch mal gemacht hat«, sagte sie. Es war, als wäre ihre
Sprachbehinderung fast verschwunden oder als hätte er sie vergessen; sie war
ein ungemein gesunder Mensch, dachte Jack.
Sie war ins Wohnzimmer gegangen und mit einem Foto in die Küche
zurückgekommen. »Eine hübsche junge Frau, findest du nicht?« fragte sie und
zeigte ihm das Bild. Jack erkannte die junge Schöne auf dem Foto: Es war die
Frau, die William ins Restaurant des Hotels Bristol mitgebracht hatte.
»Ich habe sie gefragt, ob sie tätowiert ist«, sagte Jack.
»Genau das ist ins Auge gegangen«, sagte Ingrid. »Dein Vater hat
nicht damit gerechnet, daß du sie ansprechen würdest. Er fühlte sich
schrecklich.«
»Wer war die Frau?« fragte Jack.
»Meine Schwester, eine Schauspielerin«, sagte Ingrid. »Sie ist kein
Filmstar wie du – aber in Norwegen so etwas wie eine Berühmtheit, am Theater.
Ich habe deinen Vater überredet, sie mitzunehmen. Ich fand, es geschähe deiner
Mutter recht. Alice hat ihm ständig die Bedingungen diktiert, unter denen er
dich sehen durfte. In Kopenhagen und in Stockholm hat sie ihm ja sogar
vorgeschrieben, wen er mitzubringen hat!«
»Ja, ich weiß«, sagte Jack.
»Also habe ich ihm gesagt, er soll meine Schwester, die [768] Schauspielerin, mitnehmen, und meiner Schwester habe ich gesagt, sie soll
ein Mordstheater um ihn machen. Ich habe zu den beiden gesagt: ›Das Miststück
soll glauben, daß ihr ineinander verliebt seid. Sie soll glauben, daß sämtliche
Lügen, die sie Jack erzählt, wahr geworden sind!‹ Aber dann bist du zu ihnen
hingegangen, und sie haben nicht gewußt, was sie machen sollen. Deine Mutter
hat natürlich Zustände gekriegt und dich wieder weggebracht. Sie hat dich
ständig weggebracht.«
»Ja«, sagte er.
»Dein Vater hat zu mir gesagt: ›Vielleicht hätte Verzeihen besser
funktioniert, Ingrid.‹ Aber ich habe ihm gesagt, daß bei Alice gar nichts
funktionieren würde. Nichts hat funktioniert – stimmt’s, Jack?«
»Nein, nichts hat funktioniert«, antwortete er.
»Dein Vater hat gesagt: ›Gott will, daß wir einander verzeihen,
Ingrid.‹ Das ist alles, was ich über seine Religiosität weiß, Jack.«
Draußen war es dunkel – die einsame Nachtzeit im Stensparken –, und
die Kerze auf dem Küchentisch war das einzige Licht in der dunkler werdenden
Wohnung. »Sieh nur, wie dunkel es ist, Jack Burns«, flüsterte Ingrid und beugte
sich herab, um mit ihren zusammengebissenen Zähnen sein Ohr zu berühren. »Für
mich bist du immer noch ein kleiner Junge. Ich kann dich nicht im Dunkeln nach
Hause gehen lassen.«
Sogar mit ihrer Sprachbehinderung hörte sich das an, als gehörte es
ebenfalls zu den nicht schwierigen Entscheidungen in dieser wunderbaren
Wohnung, wo niemals schwierige Entscheidungen zu treffen gewesen waren – nicht
ein einziges Mal.
Ingrid Amundsen zu küssen war fast normal; sie machte ein
merkwürdiges Geräusch beim Schlucken, als sie ihn küßte, aber es war nicht
unangenehm. Jacks Hand lag auf der Tätowierung seiner Mutter, dem
entzweigerissenen Herzen auf Ingrids [769] kleiner linker Brust – genau dort, wo
ihre Babys sie so gern angefaßt
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