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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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fragte er.
    Sie lachte weiter; es war der natürlichste Laut, den hervorzubringen
sie imstande war. (Ausgenommen vielleicht am Klavier.) »Ich habe andere Gründe
dafür, daß ich mit dir schlafen will, Jack«, war alles, was sie ihm sagte.
    »Was für andere Gründe, Ingrid?«
    »Wenn du ganz oft mit mir geschlafen hast, verrate ich es dir«,
antwortete sie. »Ich sage es dir später – versprochen.« Inzwischen hatte ihre
Sprachbehinderung etwas Drängendes, etwas, das mehr war als Überdruß am Reden.
Er begann damit, daß er sie auf ihre Tätowierung küßte, was sie zu freuen
schien.
    Am nächsten Morgen weckte Jack sie damit, daß er erneut ihr
gebrochenes Herz küßte; es sah so aus, als blutete es immer noch. Sie lächelte,
bevor sie die Augen aufschlug. »Nicht aufhören«, sagte sie, die Augen noch
geschlossen. »Wenn du nicht damit aufhörst, sage ich dir, was ich glaube, worin
die Hölle besteht.« Jetzt waren ihre Augen weit offen – die Hölle war ein
Thema, das einem die Augen öffnete. Er hörte natürlich nicht auf, sie zu
küssen.
    [772]  »Wenn man Menschen weh tut, bewußt weh
tut, kommt man in die Hölle«, sagte Ingrid. »In der Hölle muß man den Menschen
zusehen, denen man weh getan hat, denen, die noch leben. Wenn zwei Menschen, denen man weh getan hat, zusammenkommen, muß
man ihnen bei allem, was sie tun, ganz genau zusehen. Aber man kann sie nicht
hören. In der Hölle sind alle taub. Man ist gezwungen, den Leuten, denen man
weh getan hat, zuzusehen, ohne zu wissen, worüber sie reden. So wie die Hölle
beschaffen ist, denkt man natürlich, sie reden über einen selbst – daran muß
man unentwegt denken, während man immer nur zusieht und zusieht. Küß mich
überall, Jack, nicht bloß auf die Tätowierung.« Er küßte sie überall, sie
schliefen erneut miteinander. »Wie schlecht deine Mutter geschlafen hat, Jack«,
sagte Ingrid. »Sie war die ganze Nacht auf und hat uns immer nur zugesehen. «
    Jack war wieder eingeschlafen, als er das Klavier hörte. In der
Wohnung duftete es nach Kaffee. Er stand auf und ging ins Wohnzimmer, wo Ingrid
nackt am Klavier saß und leise spielte. »Hübsche Art aufzuwachen, nicht wahr?«
fragte sie mit dem Rücken zu ihm.
    »Ja«, antwortete er.
    »Wir müssen uns anziehen, und dann mußt du gehen«, sagte sie. »Mein
erster Schüler kommt gleich.«
    »Okay«, sagte Jack, drehte sich um und wollte ins Schlafzimmer
zurück.
    »Aber zuerst küßt du mich«, sagte sie, »solange das Miststück noch
zusieht.«
    Es gab eine Menge, was Jack über Religion nicht wußte. Sein Vater
war offensichtlich ein Mensch, der verzieh. Ingrid Moe (mittlerweile Amundsen)
war es nicht; sie hatte weder Andreas Breivik noch Alice verziehen. Während
Jack sie auf ihren beeinträchtigten Mund küßte, dachte er, daß auch er nicht
unbedingt ein Mensch war, der verzieh.
    [773]  Vielleicht hatte es seine Mutter in der Hölle, von der aus sie
zusah, bereut, daß sie Ingrid die falsche Tätowierung gemacht hatte – das war
jedenfalls ein Gedanke, der ihm auch kam.

[774]  29
    Die Wahrheit
    Vom Rest
von Finnland bekam Jack nichts mit. Die ganze Strecke vom Flughafen bis in die
Innenstadt von Helsinki war es dunkel. Obwohl schon April war, lag Schnee in
der Luft: ein, zwei Grad kälter, und der Regen wäre in Schnee übergegangen.
    Jack stieg im Hotel Torni ab, bestaunte den großen, runden Saal im
Erdgeschoß, der dem Hotel als Eingangshalle diente. Jack hatte ihn als American
Bar in Erinnerung, Treffpunkt der Jungen und Wilden, darunter auch ein paar
verwegene Frauen. Der alte Fahrstuhl mit dem eisernen Gitter, der während Jacks
gesamtem Aufenthalt im Torni mit seiner Mutter »vorübergehend außer Betrieb«
gewesen war, funktionierte mittlerweile.
    Doch obwohl es die American Bar nicht mehr gab, war das Torni noch
immer ein Treffpunkt für junge Leute. Im Erdgeschoß befand sich ein irischer
Pub mit Namen O’Malley’s: Kleeblätter, wohin das Auge blickte, und Guinness vom
Faß. Für die Jack Burns’ dieser Welt keine gute Wahl – in der Kneipe drängten
sich mehr Kinogänger als im Coconut Teaszer. Aber Jack hatte keinen Hunger, und
er hatte im Flugzeug geschlafen. Er hatte weder Lust, etwas zu essen, noch,
schlafen zu gehen.
    Für die Pubbesucher spielte eine gar nicht üble irische Folkband:
ein Fiedler, ein Gitarrist und ein Leadsänger, der behauptete, er liebe Yeats.
Er sei vor fünfzehn Jahren von Irland nach Finnland gezogen.
    In einer Pause unterhielt sich Jack

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