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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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als lebte unter ihrer Haut ein kleines Tier.
    Alice hatte bereits auf der Außenseite der linken Brust die Konturen
des ganzen Herzens gestochen, als Jack merkte, daß es keineswegs ein
gebrochenes Herz war, kein entzweigerissenes Herz, wie Ingrid es gewollt hatte,
sondern ein ungebrochenes. [92]  (Ohne Spiegel konnte Ingrid Alice nicht bei der
Arbeit zusehen; außerdem starrte sie unentwegt Jack an, der sich mehr für ihre
Brüste als für die Tätowierung interessierte.)
    Selbst als Alice die Konturen des Herzens auf ihren Brustkorb stach,
saß Ingrid vollkommen stumm und reglos da, obgleich ihr die Tränen reichlich
über die Wangen flossen. Alice ignorierte sie; nur wenn eine auf Ingrids linke
Brust tropfte, wischte sie sie ebenso gewissenhaft weg (mit ein wenig Vaseline
auf einem Papiertuch) wie die feinen Tintenspritzer vom Konturieren.
    Erst als Alice mit der roten Schattierung begann, wurde die
Eigentümlichkeit des Herzens erkennbar. Infolge der schwachen Wölbung von
Ingrids Brust schien es zu schlagen. Das Heben und Senken der Brust beim Atmen
gab der Tätowierung einen sichtbaren Puls. Das Herz sah so echt aus, daß man
glaubte, es werde gleich bluten. Jack hatte seine Mutter Herzen stechen sehen,
die von Blumen eingerahmt oder mit Rosen umkränzt waren, doch dieses hier stand
ganz allein da. Es war kleiner als sonst, und noch etwas war anders: Die
Tätowierung war auf der Seite von Ingrid Moes linker Brust und genau über ihrem
Herzen – da, wo eines Tages die Hand ihres Babys sie berühren würde.
    Als sie fertig war, ging Alice ins Badezimmer, um sich die Hände zu
waschen. Ingrid beugte sich vor und legte ihre langen Hände auf Jacks
Oberschenkel.
    »Du hast die Augen und den Mund deines Vaters«, flüsterte sie, doch
ihr Sprachfehler machte aus dem Satz ein einziges Genuschel. (Sie sprach das Wort
»Mund« so aus, daß es sich auf »Wind« reimte.) Und während Alice im Badezimmer
war, beugte Ingrid sich vor und küßte Jack auf den Mund. Der Junge erschauerte,
als würde er ohnmächtig. Ihre Lippen hatten sich geöffnet, so daß ihre Zähne an
die seinen stießen. Natürlich fragte er sich, ob ihre Sprachbehinderung
vielleicht ansteckend war.
    Alice kam aus dem Badezimmer und brachte einen [93]  Handspiegel mit.
Sie setzte sich neben Jack auf das Bett, und beide sahen zu, wie Ingrid Moe ihr
neues Herz zum ersten Mal betrachtete. Sie musterte es lange, bevor sie etwas
sagte. Jack hörte ohnehin nicht, was sie sagte. Er war ins Badezimmer gegangen,
wo er sich etwas Zahnpasta in den Mund drückte und ausspülte.
    Vielleicht sagte Ingrid: »Es ist nicht gebrochen – ich wollte ein
entzweigerissenenes Herz.«
    »Mit deinem Herz ist alles in Ordnung«, sagte Alice vielleicht.
    »Es ist entzweigerissen!« rief Ingrid. Das hörte Jack und kam aus
dem Badezimmer.
    »Das glaubst du nur«, sagte seine Mutter.
    »Das ist nicht das, was ich wollte!« stieß Ingrid hervor.
    »Das ist das, was du hast: ein Herz. Ein
kleines.«
    »Blöde Ziege!«
    »Nicht wenn Jack dabei ist.«
    »Ich sag Ihnen gar nichts«, sagte Ingrid. Sie hielt den Handspiegel
vor die tätowierte Brust. Es war nicht das, was sie gewollt hatte, und dennoch
vermochte sie den Blick nicht davon zu wenden.
    Alice stand vom Bett auf und ging ins Badezimmer. Bevor sie die Tür
schloß, sagte sie: »Wenn du später mal einen Mann kennenlernst – und du wirst
Männer kennenlernen –, dann hast du ein Herz, auf das er seine Hand wird legen
wollen. Und deine Kinder ebenfalls.«
    Alice drehte den Wasserhahn auf – sie wollte nicht, daß Jack und
Ingrid sie weinen hörten.
    »Du hast sie nicht verbunden«, sagte Jack zu der geschlossenen
Badezimmertür.
    »Mach du das, Jackie«, rief seine Mutter, um das Wasser zu
übertönen. »Ich will sie nicht anfassen.«
    Jack strich Vaseline auf ein Stück Mull, das etwa so groß wie Ingrid
Moes Hand war und das Herz auf ihrer Brust vollständig abdeckte. Er befestigte
es mit Pflasterband, wobei er darauf [94]  achtete, die Brustwarze nicht zu
berühren. Ingrid schwitzte ein wenig, und das Band klebte nicht gut.
    »Hast du das schon mal gemacht?« fragte sie ihn.
    »Klar.«
    »Nein, hast du nicht«, sagte sie. »Jedenfalls nicht an einem Busen.«
    Jack gab ihr die üblichen Anweisungen – die kannte er ja.
    »Du solltest den Verband erst morgen abnehmen«, sagte er zu Ingrid.
Sie knöpfte sich die Bluse zu. Den winzigen BH hatte sie gar nicht erst wieder angezogen. »Es fühlt sich an wie

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