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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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spielte, denn sie klang
besonders gut.
    Die Kirche war beinahe voll; sie setzten sich auf eine der hinteren
Bänke, nah am Mittelgang. Der Prediger war der »Glühbirnenmann«. Er schien
irgend etwas über Alice und Jack zu sagen, denn mitten in der Predigt drehten
sich einige [87]  Gemeindemitglieder besorgt zu ihnen um, mit Gesichtern, aus
denen sowohl Mitgefühl als auch Schmerz sprach.
    Jack blieb nichts anderes übrig, als an die Decke zu sehen, wo er
ein Bild erblickte, das ihm angst machte: Ein Toter stieg aus seinem Grab. Jack
war sicher, daß es Jesus war, der die Hand des Mannes hielt, doch das linderte
seine Angst vor dem wandelnden Toten nicht im geringsten.
    Plötzlich wies der Pfarrer an die Decke und las auf norwegisch aus
der Bibel vor. Jack fand es seltsam tröstlich, daß die gesamte Gemeinde mit ihm
auf das furchterregende Bild starrte. (Erst Jahre später begriff er, was es
dargestellt hatte, und las die englische Übersetzung der Verse 43 und 44 aus
dem 11. Buch des Johannesevangeliums, wo Jesus den Lazarus von den Toten
erweckt.)
    Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: »Lazarus,
komm heraus!«
    Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen
und Händen und sein Angesicht verhüllt mit dem Schweißtuch. Jesus sprach zu
ihnen: »Löset die Binden und lasset ihn gehen!«
    Als der Pfarrer »Lazarus!« rief, zuckte Jack zusammen. »Lazarus«
und »Jesus« waren die einzigen Worte, die er verstand, doch wenigstens kannte
er nun den Namen des Toten, und auch das war seltsam tröstlich.
    Als der Gottesdienst vorüber war, stellte Alice sich neben ihre Bank
in den Mittelgang und hielt sich den Hemdkarton vor die Brust. Jeder, der die
Kirche verließ, mußte an ihr und dem Schild mit der Aufschrift INGRID MOE vorbei.
Ein Junge in Jacks Alter führte die Gemeinde an und trug das Kreuz. Als er an
Alice vorbeiging, schlug er die Augen nieder. Der Pfarrer, den Jack in Gedanken
nur den »Glühbirnenmann« nannte, kam als [88]  letzter; normalerweise ging er
gleich hinter dem Kreuz, doch diesmal hatte er gewartet.
    Mit einem Seufzer blieb er bei Alice stehen. Die Stimme des
»Glühbirnenmannes« war sanft. »Bitte fahren Sie heim, Mrs. Burns«, sagte er.
    Wenn sie das »Mrs. Burns« überhaupt bemerkt hatte, so stellte sie
die Anrede jedenfalls nicht richtig. Vielleicht handelte es sich ja nicht um
ein Mißverständnis seitens des Pfarrers, sondern vielmehr um eine
Freundlichkeit.
    Er legte seine Hand auf Alice’ Handgelenk, schüttelte den Kopf und
sagte: »Gottes Segen für Sie und Ihren Sohn.« Und damit ging er hinaus.
    Auch die Putzfrau hatte Jack gesegnet. Er zog daraus den Schluß, daß
den Leuten in Norwegen viel an Segen gelegen war. Jedenfalls schien auch der
aus dem Grab steigende Lazarus geneigt, ihm seinen zu geben.
    Im Bristol aß Alice ihre Suppe. (Das war ihr Mittagessen: nur Suppe.)
Alice hatte das Interesse am Aufspüren potentieller Kunden verloren, doch Jack
glaubte, eine Kundin entdeckt zu haben. Am Eingang des Speisesaals stand ein
Mädchen und starrte zu ihnen herüber. Sie hatte ein Kindergesicht und einen zu
langen Körper, und sie wollte sich nicht vom Oberkellner zu einem Tisch bringen
lassen. Jack bezweifelte, daß seine Mutter sie tätowieren würde. Alice hatte
ihre Prinzipien. Man mußte ein bestimmtes Alter erreicht haben, und dieses
Mädchen mit dem Kindergesicht sah zu jung aus.
    Als Alice’ Blick auf das Mädchen fiel, wußte sie sofort, daß es
Ingrid Moe war. Sie bat den Ober, noch einen Stuhl zu bringen, und die große,
unbeholfen wirkende Ingrid setzte sich widerstrebend zu ihnen. Sie saß auf der
Stuhlkante, die Hände auf den Tisch gelegt, als wären die Messer und Gabeln die
Register der Orgel, die sie gleich spielen würde. Ihre Arme und Finger wirkten
absurd lang für ihr Alter.
    [89]  »Es tut mir leid, daß er dir weh getan hat. Es tut mir leid, daß
du ihm je begegnet bist«, sagte Alice zu dem Mädchen. (Jack nahm an, daß sie
seinen Vater meinte. Wen sonst hätte sie meinen können?)
    Ingrid Moe biß sich auf die Lippe und starrte auf ihre langen
Finger. Ein dicker blonder Zopf hing ganz gerade ihren Rücken hinunter; er
reichte beinahe bis zur Sitzfläche des Stuhls. Als sie sprach, wurde ihre
exquisite Schönheit durch die offensichtliche Anstrengung, die ihr das Sprechen
bereitete, verdorben. Sie biß beim Sprechen die Zähne zusammen, als hätte sie
Angst oder wäre nicht imstande, ihre Zunge sehen zu lassen.
    Jack

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