Bis ich dich finde
dachte erschauernd daran, wieviel Überwindung sie und ihren
Partner jeder Kuß kosten mußte. Jahre später stellte er sich vor, sein Vater
habe bei seiner ersten Begegnung mit ihr dasselbe gedacht – und schämte sich.
»Ich will eine Tätowierung«, sagte Ingrid zu Alice. »Er hat gesagt,
daß Sie das können.« Ihre Sprachbehinderung machte es fast unmöglich, sie zu
verstehen, jedenfalls wenn sie englisch sprach.
»Du bist zu jung für eine Tätowierung«, sagte Alice.
»Ich war nicht zu jung für ihn «,
antwortete Ingrid.
Als sie »ihn« sagte, zogen sich ihre Lippen zurück und entblößten
ihre zusammengebissenen Zähne. Ihre Halsmuskeln waren angespannt, und sie schob
den Unterkiefer vor, als wollte sie ausspucken. Es war tragisch, eine solche
Schönheit so urplötzlich verwandelt zu sehen. Der gar nicht so simple Akt des
Sprechens machte sie häßlich.
»Ich würde dir raten, dir keine machen zu lassen«, sagte Alice.
»Wenn Sie’s nicht machen, macht’s Trond Halvorsen«, preßte Ingrid
heraus. »Er ist nicht sehr gut. William hat sich bei ihm eine Entzündung
eingefangen. Ich glaube, jeder, der zu ihm geht, kriegt eine Entzündung.«
Vielleicht zuckte Alice zusammen, weil das Mädchen William [90] sagte, und nicht, weil er sich bei einem
schlechten Tätowierer mit schmutzigen Nadeln eine Entzündung geholt hatte. Aber
Ingrid Moe mißverstand Alice’ Reaktion.
»Er hat’s überstanden«, stieß sie hervor. »Er brauchte bloß ein
Antibiotikum.«
»Ich will dich nicht tätowieren«, sagte Alice.
»Ich weiß, was ich will und wo ich es haben will«, sagte Ingrid. »An
einer Stelle, die Trond Halvorsen nicht sehen soll«, fügte sie hinzu. Die Art,
wie sie den Mund verzog, als sie »Trond Halvorsen« sagte, ließ den Namen
klingen wie den eines ungenießbaren Fisches. Sie spreizte die langen Finger der
rechten Hand über ihrer linken Brust und sagte: »Hier.« Die Hand lag auf ihrem
kleinen Busen, die Fingerspitzen reichten bis zu den Rippen.
»Dort wird es weh tun«, sagte Alice.
»Ich will, daß es weh tut«, antwortete Ingrid.
»Du willst wahrscheinlich ein Herz«, sagte Alice.
Vielleicht ein gebrochenes, dachte Jack. Er spielte mit dem Besteck
– seine Gedanken schweiften wieder einmal ab.
Alice zuckte die Schultern. Ein gebrochenes Herz war eine so oft
verlangte Seemannstätowierung, daß sie sie mit geschlossenen Augen hätte machen
können. »Ich werde nicht seinen Namen schreiben«, sagte sie zu Ingrid.
»Ich will auch gar keinen Namen«, antwortete das Mädchen. Nur ein
entzweigerissenes Herz, dachte Jack. (Das war etwas, was Herzensbrecher-Madsen
oft gesagt hatte.)
»Eines Tages wirst du einen anderen kennenlernen und es ihm erklären
müssen«, sagte Alice.
»Wenn ich einen anderen kennenlerne, wird er früher oder später
sowieso alles über mich wissen wollen.«
»Und wie willst du es bezahlen?«
»Ich werde Ihnen sagen, wo Sie ihn finden können«, sagte Ingrid.
Doch Jack hörte nicht mehr zu. Ingrids Sprachbehinderung [91] störte den Jungen.
Vielleicht sagte sie auch: »Ich werde Ihnen sagen, wohin er fahren wollte.«
Soviel zu Prinzipien. Ingrid Moe war doch nicht zu jung für eine
Tätowierung. Sie war kein Kind mehr, sie sah nur wie eines aus. Trotz ihres
Kindergesichts wußte Jack das. Wenn er hätte schätzen sollen, hätte er gesagt,
Ingrid Moe sei eine Sechzehnjährige, die auf die Dreißig zuging. Er wußte
nicht, daß ihn eine Welt voller älterer Frauen erwartete.
Gegen Mittag war das Hotelzimmer von Bernsteinlicht erhellt, das
Ingrid Moes blasser Haut einen goldenen Schimmer verlieh. Sie saß mit nacktem
Oberkörper neben Alice auf einem der beiden Betten. Jack saß auf dem anderen und
starrte auf die Brüste des großen Mädchens.
»Er ist ja nur ein Kind – mir macht es nichts aus, wenn er zusieht«,
sagte Ingrid.
»Vielleicht macht es mir etwas aus«,
antwortete Alice.
»Bitte, ich möchte, daß er dabei ist, wenn Sie mich tätowieren«,
sagte Ingrid. »Er wird mal wie William aussehen. Aber das wissen Sie ja wohl.«
»Ja, das weiß ich.«
Vielleicht machte es Ingrid nichts aus, daß Jack zusah, weil sie
keinen nennenswerten Busen hatte, aber dennoch konnte er seine Augen nicht
abwenden. Sie saß gerade aufgerichtet da, ihre langen Finger umklammerten die
Knie. Die bläulichen Adern ihrer Unterarme hoben sich vom Goldton der Haut ab.
Eine andere Ader begann an ihrer Kehle und führte zwischen den Brüsten
hindurch; sie schien zu pulsieren,
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