Bis ich dich finde
umgezogen. Jack sah das neue
Studio, ging aber nicht hinein. Als er eine der Prostituierten nach dem Studio
fragte, erfuhr er, daß es jemand namens Eddie betreibe – Tatoeërer-Pieters
zweitältester Sohn, glaubte Jack verstanden zu haben.
»Ach, Sie meinen Eddie Funk«, sagte jemand anders später zu ihm, was
darauf schließen ließ, daß der Betreiber des neuen Studios gar nicht mit
Tatoeërer-Pieter verwandt war. Aber was spielte das schon für eine Rolle? Wer
auch immer Eddie war, er konnte Jack nicht helfen.
Tatoeërer-Pieter – Eddies Vater oder auch nicht – war am St.
Patrick’s Day 1984 gestorben. Das jedenfalls hatte Jack in einer alten
Tätowiererzeitschrift gelesen, als er und Leslie Oastler das Daughter Alice in
Toronto ausräumten.
»Hör dir das an«, hatte er, wie er sich erinnerte, zu Leslie Oastler
gesagt. »Tatoeërer-Pieter ist in Dänemark geboren. Ich habe gar nicht gewußt,
daß er Däne war! Er hat sogar für Tatovør-Ole gearbeitet, bevor er nach
Amsterdam gezogen ist.«
»Na und?« hatte Leslie gesagt.
»Davon habe ich nie was gewußt!« hatte Jack gerufen. »Er hat einen
Mercedes gefahren! Den habe ich nie gesehen! Er ist am Stock gegangen – den
Stock habe ich auch nie gesehen! Ich habe ihn überhaupt nie gehen sehen! Er war
mit einer Französin verheiratet, einer Pariser Sängerin! Man hat sie mit Edith
Piaf verglichen!«
»Alice hat mir, glaube ich, erzählt, er ist auf eine Mine getreten«,
hatte Mrs. Oastler gesagt. »Dabei hat er sein Bein verloren.«
[810] »Aber mir hat sie das nie erzählt!«
hatte er ausgerufen.
»Einen Scheißdreck hat sie dir erzählt«, hatte Leslie, wie er sich
erinnerte, gesagt.
Im Regen ging Jack um die Oude Kerk herum, aber nicht hinein. Er
wußte nicht, warum er zögerte. Der Kindergarten neben der Kirche sah ziemlich
neu aus. Auf dem Oudekerksplein standen mehr Prostituierte, als er in
Erinnerung hatte, aber Kindergartenkinder hatte es noch nicht gegeben, als Jack
und seine Mutter durch das Viertel getrottet waren.
Jack hatte keine Mühe, das Polizeirevier in der Warmoesstraat zu
finden, aber auch dort ging er nicht hinein. Er war noch nicht bereit, mit Nico
Oudejans zu sprechen, immer vorausgesetzt, Nico war nach wie vor Polizist, und
Jack konnte ihn finden.
Er ging auf der Warmoesstraat in Richtung Dam und blieb Ecke Sint
Annenstraat stehen, genau an der Stelle, wo er, seine Mutter, Saskia und Els
damals auf Jacob Bril gestoßen waren, der das Vaterunser auf seine Brust
tätowiert hatte. Brils Bauch zierte eine Tätowierung von Lazarus, wie er aus
dem Grab aufstand. Manche Sachen vergaß man nicht, ganz gleich wie jung man
war, wenn man sie zu Gesicht bekam.
»Vor den Augen des Herrn bist du wie die, mit denen du dich
umgibst«, hatte Jacob Bril zu Alice gesagt.
»Was weißt du schon von den Augen des Herrn?« hatte Els ihn gefragt.
So jedenfalls hatte Jack es in Erinnerung – wenn überhaupt etwas davon stimmte!
Das Tattoo Museum am Oudezijds Achterburgwal, vielleicht eine
Minute zu Fuß von Jacks Hotel entfernt, war ein warmer, gemütlicher Ort mit
mehr Utensilien und Memorabilien aus der Welt des Tätowierens, als Jack je in
einem Studio gesehen hatte. Er traf sich mittags, als das Museum öffnete, mit
Henk Schiffmacher, und Henk führte ihn herum. Henks Studio befand sich
ebenfalls dort, Hanky Panky’s House of Pains, wie es sich [811] nannte. Wer auch
immer Eddie im neuen Tatoeërer-Pieter war, Henk Schiffmacher war der
Tatoeërer-Pieter seiner Zeit; jeder in der Tinte-und-Schmerzen-Branche kannte
Hanky Panky.
Henk war ein großer, schwerer Bursche mit Bikerbart und langen
Haaren. Auf seinem linken Bizeps spie ein Totenkopf Feuer, auf dessen Stirn so
etwas wie eine weibliche Brust prangte. Auf seinem rechten Unterarm wickelte sich
eine Filmrolle ab. Natürlich hatte Hanky Panky noch andere Tätowierungen, sein
Körper war eine Landkarte seiner Reisen. Aber an diese beiden erinnerte sich
Jack am deutlichsten.
Er sah zu, wie Henk einem Japaner am Hals ein irezumi stach, das einen Kakerlak darstellte. ( Irezumi heißt
auf japanisch Tätowierung.) Hanky Panky war schon überall gewesen: in Japan,
auf den Philippinen, in Singapur, Bangkok, Sumatra, Nepal, Samoa.
Während Henk dem Japaner den Kakerlak tätowierte, hörte Jack Johnny
Cash, der auf dem CD -Spieler »Rock of Ages« sang.
Ein gutes Tätowierungsstudio sei ein regelrechtes Universum, hatte er seine
Mutter sagen hören. »Ein Ort, wo jedes Verlangen verziehen
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