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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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wird«, sagte Henk
Schiffmacher. Warum also hatte Jacks Mutter seinem Vater nicht verzeihen
können? Und wie hatte es William fertiggebracht, Alice zu verzeihen, falls er
es denn getan hatte? (Er selbst, glaubte Jack, konnte ihr nicht verzeihen.)
    »Ist jemand namens Nico Oudejans noch immer Polizist im Viertel?«
fragte er Hanky Panky.
    »Nico? Er ist noch immer der beste Polizist im Viertel«, sagte Henk.
»Nico ist Brigadier. «
    Jacob Brils knochigen Rücken hatte seine Lieblingstätowierung
geziert, die Auferstehung: Christus, wie er, von Engeln begleitet, zum Himmel
auffuhr. Während Jack durch das Rotlichtviertel zum Polizeirevier in der
Warmoesstraat ging, erinnerte er sich, daß der Himmel in Brils Version ein
dunkler, wolkenverhangener Ort gewesen war. Es hatte zu regnen aufgehört, aber [812]  das Kopfsteinpflaster war schlüpfrig, und der Himmel blieb dunkel und
wolkig, wie der von Jacob Bril.
    Jack Burns hörte seinen Namen noch einige Male. Woher sie auch
stammten, einige der Frauen in den Schaufenstern und Hauseingängen waren
Kinogängerinnen – oder waren es in einem früheren Leben gewesen.
    Jack ging über die Kanalbrücke bei der Oude Kerk und gelangte zu dem
kleinen, stinkenden Pissoir, einem Einmannurinal, wo er als Kind gepinkelt
hatte. Es war dunkel gewesen; seine Mutter hatte vor der Sichtblende gestanden,
während er pinkelte. Sie hatte ihm mehrfach gesagt, er solle sich beeilen.
Wahrscheinlich wollte sie nicht, daß man sie nachts allein in der Gegend des
Oudekerksplein stehen sah. Während er pinkelte, konnte er betrunkene junge
Männer singen hören. Sie hatten wohl auf englisch gesungen, denn sonst hätte er
sich nicht an Bruchstücke des Liedtextes erinnert.
    Es waren englische Fußballfans, wie seine Mutter ihm später sagte.
»Das sind die schlimmsten«, hatte sie gesagt. Es hatte ein Fußballspiel
stattgefunden; so wie sich die Fans im Rotlichtviertel aufführten, schien das
Ergebnis keine Rolle zu spielen. Sie seien »elende Rüpel« hatte Saskia seiner
Erinnerung nach gesagt; elende Rüpel gehörte nicht
zum Vokabular seiner Mutter.
    Jack ging noch einmal um die Oude Kerk herum auf die Seite, wo sich
der neue Kindergarten die Straße mit den Huren teilte. Irgend jemand folgte
ihm: Ecke Stoofsteeg, praktisch gleich nachdem Jack das Tattoo Museum und das
House of Pains verlassen hatte, hatte sich jemand an seine Fersen geheftet.
Wenn Jack langsamer wurde, wurde der Mann ebenfalls langsamer, und wenn Jack
seinen Schritt beschleunigte, legte auch der Mann an Tempo zu.
    Ein Fan, dachte Jack. Er haßte es, wenn sie ihm folgten. Wenn sie
auf ihn zutraten, »Hallo, ich mag Ihre Filme« sagten, ihm die Hand gaben und
dann ihrer Wege gingen, war das in Ordnung. [813]  Aber die Verfolger irritierten
Jack gewaltig; normalerweise waren es Frauen.
    Dieser hier nicht. Er war ein hartgesotten wirkender Bursche mit
dunkelblondem Bart, der Laufschuhe und eine Windjacke trug; im Gehen hatte er
die Hände in die Jackentaschen gesteckt und die Schultern vorgeschoben, als
regnete es immer noch oder als wäre ihm kalt. Mitte Fünfzig vielleicht – oder
jedenfalls Ende Vierzig. Der Mann gab sich nicht die geringste Mühe, so zu tun,
als folgte er Jack gar nicht. Es war, als forderte er Jack heraus, sich
umzudrehen und ihn zur Rede zu stellen.
    Jack bezweifelte, daß der Kerl den Mumm haben würde, ihm bis ins
Polizeirevier zu folgen, deshalb ging er einfach weiter.
    Er war noch ein kleines Gäßchen von der Warmoesstraat entfernt, als
eine dunkelhäutige Prostituierte in Unterwäsche und hohen Absätzen aus ihrem
Hauseingang trat. Sie berührte ihn beinahe. »Hallo, Jack«, sagte sie. »Ich hab
dich im Kino gesehen.« Sie hatte einen spanisch klingenden Akzent. Vielleicht
handelte es sich um eine Dominikanerin oder Kolumbianerin.
    Als sie Jacks Verfolger sah, hob sie augenblicklich die Hände, als
richtete der Mann eine Waffe auf sie. Rasch trat sie in ihren Hauseingang
zurück. Da wußte Jack, daß der Mann, der ihm folgte, Polizist war. Die
Dominikanerin oder Kolumbianerin kannte ihn offensichtlich und wollte keinen
Ärger.
    Jack blieb stehen und drehte sich zu dem Polizisten um. Die Augen
des anderen waren noch immer hellblau, und hoch auf einem Wangenknochen saß die
kleine, unverkennbare Narbe in Form eines L. Der Bart hatte Jack getäuscht. Mit
Ende Zwanzig, Anfang Dreißig, als Jack ihn kennengelernt hatte, war Nico
Oudejans bartlos gewesen; der Vierjährige hatte ihn sehr nett gefunden.

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