Bis ich dich finde
die Tätowierungen deines Vaters nachmachen
lassen, allerdings schlecht«, sagte Nico. »Dann hat er einen richtig dämlichen
Job angenommen – irgendwas, was außer ihm keinem im Traum eingefallen wäre –,
und wir haben ihn hier im Viertel nie wiedergesehen.«
»Ich glaube, ich weiß, was Donker gemacht hat«, sagte Jack. »Er hat
einen Job als Klavierspieler auf einem Kreuzfahrtschiff angenommen. Er ist nach
Australien gefahren, um sich von Cindy Ray tätowieren zu lassen.«
»Ja, genau!« rief Nico Oudejans. »Was für ein Gedächtnis du hast,
Jack! Das ist ein Detail, das sogar ein Bulle wie ich vergessen hatte.«
Jack erinnerte sich auch an die dunkelhäutige Frau aus Surinam. Sie
war eine der ersten Prostituierten gewesen, die mit ihm gesprochen hatte. Es
hatte ihn überrascht, daß sie seinen Namen kannte. Sie hatte entweder im
Korsjespoortsteeg oder in der Bergstraat in einem Schaufenster gesessen – nicht
im Rotlichtviertel, sondern ungefähr in der Gegend, wo Jack und seine Mutter
Femke getroffen hatten. (Und er hatte geglaubt, Femke wäre [819] eine etwas aus
dem Rahmen fallende Prostituierte, dabei war sie in Wirklichkeit Anwältin!)
Die surinamesische Prostituierte hatte ihm eine Tafel Schokolade
geschenkt, so dunkel wie ihre Haut. »Die habe ich für dich aufgehoben, Jack«,
hatte sie gesagt. Und er hatte jahrelang geglaubt, sie müsse eine der Freundinnen
seines Vaters gewesen sein – eine der Prostituierten, die William mit zu sich
nach Hause genommen und mit ihm geschlafen hatten, wie seine Mutter ihm
weisgemacht hatte. Dabei stimmte das gar nicht.
Jacks Vater hatte in Amsterdam keinen Sex mit Prostituierten gehabt.
Er hatte lediglich Orgel für sie gespielt, einen ebenso gewaltigen wie heiligen
Klang erzeugt, der sie gezwungen hatte, einfach nur zuzuhören. Und einige von
ihnen – diejenigen, die es geschafft hatten, in der Musik den Lärm des Herrn zu
hören – hatte er vielleicht sogar vor den Sünden einer einzigen Nacht bewahrt,
wenn auch erst später in ihrem Leben, als ein paar von ihnen tatsächlich ihr
Gewerbe aufgegeben hatten.
»Ich habe deinen Vater den protestantischen Loyola genannt. Das hat
ihm offenbar gefallen«, sagte Nico Oudejans zu Jack.
Er erzählte ihm außerdem, die surinamische Prostituierte habe zu den
ersten gehört, die William zum Christentum bekehrt habe: sie habe Gottes Lärm
in der Orgel gehört und über Nacht zum Glauben gefunden.
Jack hatte den Überblick darüber verloren, wie viele Polizisten in
das Büro gekommen waren und ihre Gulden vor Nico auf den Tisch gelegt hatten,
doch als erneut einer gekommen und wieder gegangen war, fragte er Nico, ob er
eine Wette auf ein Spiel oder ein Pferd gewonnen habe.
»Ich habe eine Wette auf dich gewonnen, Jack«, sagte der Polizist.
»Ich habe mit jedem Polizisten im Zweiten Bezirk gewettet, daß eines Tages,
bevor ich pensioniert werde, Jack Burns in das Revier in der Warmoesstraat
kommen und sich mit mir über seine Mutter und seinen Vater unterhalten würde.«
[820] Am nächsten Tag, einem Mittwoch, ging Jack abends mit Nico
zur Oude Kerk, um Willem Vogel, dem Organisten, bei der Probe zuzuhören. Als
Lehrer und Dirigent hatte sich Vogel offiziell zur Ruhe gesetzt, aber er
schrieb noch immer Musik für Orgel und Chor – erst kürzlich war eine CD mit seinen Kompositionen erschienen –, und er
spielte noch immer Orgel in der Oude Kerk, nämlich sonntags beim
Hauptgottesdienst und Mittwoch abends auf der Probe. Willem Vogel war Ende
Siebzig, sah aber jünger aus. Er hatte lange, unbehaarte Hände und trug einen
Pullover mit ausgebeulten Ellbogen. Weil die Kirche nicht geheizt war, hatte er
sich einen Schal um den Hals geschlungen.
Die schmale, gemauerte Wendeltreppe, die zur Orgelempore
hinaufführte, hatte Jack zutreffend in Erinnerung behalten. Auf einer Seite
befand sich der hölzerne Handlauf, auf der anderen ein gewachstes Seil, so
dunkel wie verbrannter Karamel. Hinter der lederbezogenen Orgelbank hing eine
helle Glühbirne ohne Schirm, die ein vollkommen schattenloses Licht auf die
vergilbten Notenblätter warf. Vogels abgetretene Schuhe erzeugten ein leises
Tappen auf den Pedalen, seine langen Finger ein noch leiseres Klacken der
Tasten.
Das Summen des Chors im fernen Hintergrund konnte Jack nur hören,
wenn die Orgel leise oder gar nicht spielte. Wenn Vogel richtig loslegte,
konnte man auf der Orgelempore kaum die Begleitstimmen hören. Einmal, als der
Chor ohne ihn sang, wickelte Vogel
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