Bis ich dich finde
Nerven zu verlieren.
(Sie hatte ein paarmal so ausgesehen, als sei sie kurz davor, aus der Haut zu fahren.)
Außerdem freute er sich auf die Reise nach Halifax, wobei ein nicht
geringer Teil seiner Freude daher rührte, daß er die Reise gegen Dr. Garcías
ausdrücklichen Wunsch unternahm. Und last but not least hatte Michele Maher ihm
kürzlich geschrieben, was um so bemerkenswerter war, als er zuvor über ein Jahr
lang nichts von ihr gehört hatte – nicht einmal eine Postkarte mit einem
Glückwunsch zum Oscar war gekommen.
Natürlich hatte Jack daraus den Schluß gezogen, daß der Sozusagen -Freund sie verstärkt unter seine Fuchtel genommen
hatte. Daß er ihr verboten hatte, mit Jack Burns Verbindung aufzunehmen, war
Jack ebenfalls in den Sinn gekommen. Und nun war ihr langer, überaus
informativer, wenn auch nicht übertrieben gefühlvoller Brief gekommen.
Natürlich hatte Jack ihn Dr. García gezeigt, aber die Ärztin war nicht
sonderlich erbaut gewesen.
Daß er Michele Maher in seiner Rede bei der Oscarverleihung dafür
gedankt hatte, daß sie so lange aufgeblieben war, um ihn im Fernsehen zu sehen,
hatte Folgen gehabt und zu einer hitzigen Diskussion mit ihrem Sozusagen-Freund
geführt, in der es offenbar darum ging, wie verbindlich oder unverbindlich
Micheles Beziehung zu ihm war. Michele hatte noch nie mit jemandem
zusammengelebt. In ihrer altmodischen Denkweise hieß Zusammenleben Ehe und
Kinder und war nicht als Experiment gedacht. Doch weil Jack vor einem
Millionenpublikum ihren Namen erwähnt hatte, bestand ihr Sozusagen -Freund
darauf, daß sie zusammenzogen. Michele gab nach, schreckte allerdings vor
Heirat und Kindern zurück.
[898] Es handelte sich um einen Arztkollegen, einen Internisten, Freund
eines Freundes, den sie von der Universität her kannte. Sie seien sich sehr
ähnlich (vielleicht zu ähnlich), schrieb sie.
»Alles an diesem Brief«, sagte Dr. García, als sie ihn fertiggelesen
hatte, »deutet auf einen Pragmatismus hin, der sich grundlegend von der Art und
Weise unterscheidet, wie Sie an irgendein Problem auf dieser Welt herangehen.«
Aber Jack hatte etwas anderes aus Micheles Brief herausgelesen –
zunächst einmal, daß es mit dem Freund-als-Mitbewohner nicht funktioniert
hatte. ( »Ein Jahr Verbindlichkeit, und nie ist mir alles so
unverbindlich vorgekommen«, wie Michele es formulierte.) Sie lebte
wieder allein und hatte keinen Freund. Endlich hatte sie die Freiheit, Jack zum
Gewinn des Oscars zu gratulieren und vorzuschlagen, sie sollten, wenn er einmal
in der Gegend von Boston sei, zusammen Mittag essen gehen.
»Mir ist klar, daß man nicht jedes Jahr für einen
Oscar nominiert wird«, schrieb Michele. »Außerdem würdest
Du mich wohl kaum noch einmal bitten, Dich zu begleiten, falls Du jemals wieder
zur Preisverleihung gehst. Rückblickend jedoch hätte ich mir selbst ein
unglückliches Jahr ersparen können, wenn ich beim ersten Mal ja gesagt hätte.«
»In dem Satz mit dem Rückblick steckt ja wohl mehr als nur ein
vorsichtiger Annäherungsversuch, nicht wahr?« kommentierte Dr. García. (Das war
nicht als Frage formuliert, auf die sie eine Antwort von Jack erwartete; sie
unterstellte schlicht, daß er ihr beipflichtete.)
»Später – vielleicht«, schloß Micheles
Brief auf deutsch.
»Hmm.« (Das war die Art, wie Dr. García etwas herunterspielte.)
»Ich könnte auf dem Rückflug von Halifax einen Zwischenstopp in
Boston einlegen«, schlug er vor.
»Wie alt ist Michele – fünfunddreißig, sechsunddreißig?« fragte Dr.
García, als wüßte sie es nicht.
[899] »Ja, sie ist in meinem Alter«, erwiderte er.
»Die meisten Ärzte sind Workaholics«, sagte Dr. García, »aber
Micheles biologische Uhr tickt, wie bei jeder Frau in ihrem Alter.«
Er hätte Dr. García in chronologischer
Reihenfolge von Micheles Brief erzählen sollen, dachte Jack, sagte aber
nichts.
»Andererseits hört sie sich nicht direkt prominentengeil an, oder?«
sagte Dr. García.
»Sie hat lediglich vorgeschlagen, daß wir zusammen zum Mittagessen
gehen«, sagte Jack.
»Hmm.«
In Dr. Garcías Praxis hingen keine neuen Fotos. In den drei Jahren,
die er nun ihr Patient war, waren keine neuen Fotos hinzugekommen. Dafür wäre
auch gar kein Platz gewesen – sie hätte ein paar alte wegwerfen müssen.
»Rufen Sie mich von Halifax aus an, wenn Sie in Schwierigkeiten
geraten, Jack.«
»Ich werde nicht in Schwierigkeiten geraten«, sagte er.
Dr. García betrachtete eingehend
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