Bis ich dich finde
Wartezimmer von Dr. Garcías Praxis in Santa Monica
wiedersah, war es über ein Jahr her, daß er den Oscar bekommen hatte: April
oder Mai 2001. Lucy mußte um die achtzehn sein. Jack erkannte sie nicht, aber
sie erkannte ihn. Das tat jeder. (Ein hübsches Mädchen – jemandes
Kindermädchen, hatte er vermutet.)
[895] Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, mit dem Gegaffe von Mädchen
in Lucys Alter zu rechnen und es zu ertragen, doch Lucys Augen hefteten sich
auf sein Gesicht, seine Hände, registrierten jeden seiner Blicke, jede seiner
Bewegungen. Ihr heftiges Interesse an ihm ging weit über einen Flirtversuch
oder Groupieverhalten hinaus. Fast hätte Jack die Sprechstundenhilfe gefragt,
ob er in einem anderen Raum warten könne. Er wußte nicht, ob es außer einem
Badezimmer und einer Toilette noch andere Räume gab, aber Lucys hemmungslose
Faszination war irritierend.
Dann erledigte sich das Problem scheinbar von selbst: Sie begegneten
sich nur dieses eine Mal in Dr. Garcías Wartezimmer. Jack vergaß das Mädchen
völlig.
Daß er sich an das Jahr und die Jahreszeit seiner ersten
Wiederbegegnung mit Lucy – die er (damals) nicht als Wiederbegegnung erkannte –
erinnern sollte, lag daran, daß er sich zu einer Reise nach Halifax anschickte,
seiner ersten Reise dorthin, seitdem er im Bauch seiner Mutter den Atlantik
überquert hatte und in Nova Scotia gelandet war. Dr. García hatte ihn davor gewarnt,
seinen Geburtsort aufzusuchen, denn sie befürchtete einen Rückschlag für seine
Therapie. Aber Jack hatte in Halifax anderes zu tun.
Doug McSwiney, ein nicht besonders guter kanadischer Romancier und
Drehbuchautor, und Cornélia Lebrun, eine berühmte französische Regisseurin,
wollten, daß er die Hauptrolle in einem Film über die Explosionskatastrophe von
Halifax im Jahre 1917 spielte. Wahrscheinlich kriegten sie ohne die Mitwirkung
eines Stars nicht genügend finanzielle Mittel zusammen, und angesichts des
ziemlich ausgefallenen Drehbuchs konnte es nicht irgendein Star sein. Weil die Hauptfigur ein Transvestit war, kam nur Jack Burns in
Frage.
Der Mann, den Jack spielen sollte – ein Transvestit, der von der
Prostitution lebt –, verliert bei der Explosion sein [896] Gedächtnis und
erleidet, weil sie ihm die Kleider wegreißt, schwere Verbrennungen am ganzen
Körper. Im Krankenhaus verliebt er sich in eine Krankenschwester. Zunächst
erinnert er sich nicht daran, daß er ein Transen-Stricher ist, aber es wäre kein
Film, wenn der Mann sein Gedächtnis nicht wiederfände.
Jack hatte einige Probleme mit dem Drehbuch, aber für die
Explosionskatastrophe von Halifax hatte er sich schon immer interessiert – und
er hatte seit jeher seine Geburtsstadt sehen wollen. Mit Cornélia Lebrun als
Regisseurin zusammenzuarbeiten, lockte ihn ebenfalls. Sie war der erheblich
kompetentere Teil des Zweiergespanns, und als sie ein Treffen in Halifax
vorschlug – wo sie mit McSwiney an dessen verkorkstem Drehbuch arbeitete und
ihn zu Verbesserungen drängte –, ergriff Jack die Gelegenheit, seine
Geburtsstadt zu sehen. Außerdem würde sich die Möglichkeit bieten, seinen Senf
zu Doug McSwineys Trivialisierung der Katastrophe von Halifax zu geben.
Nach dem Gewinn des Oscars hatte er unzählige Angebote abgelehnt.
Oftmals handelte es sich um Vorschläge für Adaptionen. Auf der Suche nach einer
literarischen Vorlage, die ihn reizen könnte, hatte er viele Romane gelesen.
Doch seit er begonnen hatte, Dr. García seine Lebensgeschichte zu erzählen, war
der Gedanke, irgendein Drehbuch zu schreiben, immer mehr in den Hintergrund
getreten.
Jack Burns war, zumindest vorläufig, zur Schauspielerei
zurückgekehrt – das jedenfalls sagte er Bob Bookman. Doch seit dem Oscar war er
auch sehr wählerisch, was Rollenangebote anging. Allerdings faszinierte ihn der
Gedanke, in Halifax zu drehen. Wer weiß, was er dort an sogenannten
verschütteten Erinnerungen zutage fördern mochte? (Vermutlich zumeist
frühkindliche Träume und Vorahnungen.)
So war sein Gemütszustand im Juni 2001, als er zu seinem Termin bei
Dr. García nach Santa Monica fuhr. Es war ein warmer Tag, weshalb er die
Fenster offenließ, als er den Audi parkte.
[897] Für sein positives Grundgefühl hatte er eine ganze Reihe von
Gründen. Drei Jahre nach dem Ereignis hatte er seine Wiederholungsreise bis auf
eine einzige Hafenstadt komplett geschildert und dabei festgestellt, daß er Dr.
García erzählen konnte, was passiert war, ohne dabei die
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