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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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»Sein
was?«
    »Jack, warum weinst du?« hatte der Verrückte Holländer außerdem
gefragt.
    Und nun saßen sie in Hollywood in einem Tonstudio, und Wild Bill
Vanvleck verbreitete sich darüber, wie sie Emmas Film gemacht hatten. Doch im
monotonen Tonfall des Holländers ging unter, was er tatsächlich sagte. Jack sah
ihn betrunken auf der Straße sitzen und seine Freundin anblaffen: »Das hab ich
doch nicht gewußt!« Und hörte immer noch, wie er später, als sie [892]  durchs
Rotlichtviertel zurückgegangen waren, »Gute Nacht, ihr Lieben!« gerufen hatte.
    Aber Richard, Wild Bill und er hatten eine Arbeit zu erledigen, und
sie erledigten sie. Als Jack später am Nachmittag ins Four Seasons
zurückkehrte, traf er Miss Wurtz im Wohnzimmer der Suite beim Klavierspielen
an. Er setzte sich auf die Couch und hörte eine Zeitlang bloß zu.
    Die Wurtz richtete das Wort an ihn, ohne jedoch ihr Klavierspiel zu
unterbrechen. »Ich möchte mich bei dir bedanken, Jack. Es war wunderbar! Eine
herrliche Nacht für eine alte Frau!«
    Jack hatte einen steifen Hals, und die Zehen taten ihm weh,
vermutlich von irgendeiner Übung im Fitness-Studio.
    »Aber ich muß dich aufklären, Jack«, fuhr Miss Wurtz fort. »Bitte
faß das nicht falsch auf, aber nicht einmal eine Nacht wie die gestrige
bedeutet mir so viel wie jede einzelne Nacht, die ich mit deinem Vater
verbracht habe. Wenn ich nie zur Preisverleihung gekommen wäre, hätte ich
trotzdem noch William in meinem Leben, und das ist alles, worauf es ankommt.«
    In diesem Augenblick wußte Jack, warum er einen steifen Hals hatte
und ihm die Zehen weh taten. Er wußte, was er in den paar Stunden Schlaf am
Montagmorgen nach der Preisverleihung geträumt hatte. Er hatte an Deck jenes
aus Rotterdam auslaufenden Schiffes gestanden und sich angestrengt, über die
Reling zu sehen. Er hatte auf den Zehenspitzen gestanden und den Kopf gereckt:
Diese unbequeme Haltung hatte er wohl in den paar Stunden Schlaf beibehalten.
Und natürlich konnte er, sosehr er sich auch abmühte, das Ufer nicht sehen.
    Er glaubte zwar nicht unbedingt an sogenannte wiedergewonnene
Erinnerungen, doch an das Folgende erinnerte er sich, während er Miss Wurtz’ Klavierspiel
zuhörte, und er war sich sicher, daß es wirklich geschehen war – er wußte, daß
es stimmte.
    »Heb mich hoch!« hatte er an Deck jenes Schiffes zu seiner Mutter
gesagt. Der Kai war noch in Sicht, für Jack aber nicht zu [893]  sehen. »Heb mich
hoch!« hatte er seine Mutter angefleht. »Ich will was sehen!« Aber sie hatte
sich geweigert.
    »Du hast genug gesehen, Jack«, hatte sie gesagt. Sie hatte ihn bei
der Hand genommen. »Wir gehen jetzt unter Deck«, hatte sie gemeint.
    »Heb mich hoch! Ich will was sehen!« hatte er verlangt.
    Aber Alice war nicht geneigt, sich herumkommandieren zu lassen. »Du
hast so viel von Holland gesehen, daß es dir für den Rest deines Lebens reicht,
Jackieboy«, hatte sie gesagt.
    Unter den gegebenen Umständen hatte er auch von Kanada so viel
gesehen, daß es ihm für den Rest seines Lebens reichte. Denn das nächste Land,
das er zu sehen bekam, war Kanada, das Land, wohin er mit seiner Mutter fuhr –
und wo er seinen Vater niemals zu Gesicht bekommen würde.

[894]  33
    Anzeichen von Ärger
    Mrs. Machado hatte inständig gehofft – jedenfalls hatte sie das
gesagt –, daß Mister Penis niemals ausgenutzt werden würde. Aber von wem? Von
willigen Mädchen und verderbten Frauen? Dr. García sagte Jack, daß viele
Frauen, die Kinder sexuell mißbrauchten, glaubten, daß sie sie beschützten und
daß es sich bei dem, was andere als Mißbrauch bezeichneten, um eine Form von
mütterlicher Zuwendung handelte.
    Dr. García spekulierte weiter, daß Mrs. Machado einen gewissen
Mangel an Mutterinstinkt bei Alice beobachtet haben mußte. »Frauen wie Mrs.
Machado wissen, welche Jungen verletzlich sind«, sagte Jacks Therapeutin. »Es
spielt ihnen natürlich in die Hände, wenn sie die Mutter des Jungen kennen und
sehen, wo es fehlt.«
    »Principiis obsta!« hatte Mr. Ramsey ihn
einmal gewarnt. »Wehre den Anfängen!«
    Wenn Jack Vater- und Mutterprobleme hatte, stellte sich die Frage,
wie Lucy einzuordnen war. Sie war vier, fast fünf Jahre alt an jenem Abend im
Frühherbst des Jahres 1987 – dem ersten und letzten Abend, an dem er für den
Parkservice von Stan’s Restaurant in Venice zuständig war –, als er sie auf dem
Rücksitz des silberfarbenen Audis ihrer Eltern entdeckte.
    Als er Lucy im

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