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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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samt einer
Infektion Trond Halvorsen (dem Picker) aus Oslo zu verdanken hatte. Doch von
der Anstrengung wurde ihm schwindelig.
    [1094]  »Weißt du, was Tokkata bedeutet, Jack?«
    »Nein, Pop.«
    »Es bedeutet im wesentlichen Anschlag –
ein fast gehämmerter Anschlag«, erklärte Jacks Vater. Er war noch nicht einmal
außer Atem. Jack konnte keinen Hinweis darauf entdecken, daß Dr. Horvath, was
den psychischen Nutzen des Joggingprogramms im Sanatorium Kilchberg anging,
recht gehabt hatte, aber der konditionelle Nutzen war nicht zu übersehen.
    Stanleys »Trumpet Tune in D«, das Trompetenstück, das Williams Brust
im Bereich der rechten Lunge zierte, schien mit Bedacht an diese Stelle
gesetzt. (Brauchte man zum Trompetespielen nicht gute Lungen?) Und dann war da
noch, auf französisch und englisch, das berühmte Alain-Zitat auf dem nackten
Hintern seines Vaters – nicht, daß William so lange stillgehalten hätte, daß
Jack es hätte lesen können.
    »Pop, vielleicht solltest du dich zum Essen anziehen.«
    »Wenn ich aufhöre, wird mir kalt, mein lieber Junge. Ich habe keine
Lust zu frieren!« rief sein Vater.
    Für Professor Ritter und die Ärzte, die draußen auf dem Flur
lauschten, war diese Äußerung wohl so vertraut, daß sie so etwas wie ein
Stichwort darstellte. Von der Tür kam lautes, rasches Klopfen – wahrscheinlich
Dr. Horvath.
    »Vielleicht sollten wir hereinkommen, William!« rief Professor Ritter.
Es war eigentlich keine Frage.
    »Vielleicht!« schrie Jacks Vater.
    Er sprang vom Bett, beugte sich vornüber, setzte die Hände auf den
Boden und streckte, während er Jack ansah, den nackten Hintern der sich
öffnenden Tür entgegen. Als Professor Ritter und die Ärzte eintraten, zeigte
William ihnen den Blanken.
     
    Die Vernunft ist an ihre Grenze gestoßen.
Nur der Glaube wächst immerdar.
    [1095]  »Ich muß schon sagen, William, ich finde das ein bißchen
enttäuschend«, sagte Professor Ritter.
    »Nur ein bißchen?« fragte Jacks Vater; er hatte sich aufgerichtet
und zu ihnen umgedreht.
    »Das ist nicht der passende Aufzug für die Kronenhalle, William!«
ermahnte ihn Dr. Horvath.
    »Ich esse nicht mit einem nackten Mann – jedenfalls nicht in der
Öffentlichkeit«, verkündete Dr. von Rohr, aber Jack merkte, daß sie ihre
Wortwahl sofort bereute. »Es tut mir leid«, fügte sie hinzu. Die anderen Ärzte
und Professor Ritter sahen sie befremdet an. »Ich habe doch gesagt, es tut mir
leid!« sagte sie, nun wieder ganz oberärztlich.
    »Ich glaube, ich habe das Wort nackt gehört«, sagte William lächelnd zu seinem Sohn. »Wenn das kein Auslöser ist!«
    »Ich habe gesagt, es tut mir leid, William«, sagte Dr. von Rohr.
    »Aber ich bitte Sie«, sagte Jacks Vater gereizt. Doch Jack sah ein
erstes Anzeichen dafür, daß sein Vater wieder fror – ein einziges Zittern. »Es
ist nur so, daß ich Ihnen doch gesagt habe, daß ich nicht nackt bin. Sie wissen
doch, daß ich mich nicht so fühle!«
    »Ja, das wissen wir, William«, sagte Dr. Berger. »Das haben Sie uns
gesagt.«
    »Aber Jack hat es noch nicht gehört«, warf Professor Ritter ein.
    Dr. von Rohr seufzte: Hätte sie einen Bleistift in ihren langen
Fingern gehabt, hätte sie ihn herumgewirbelt. »Diese Tätowierungen sind die eigentliche Kleidung Ihres Vaters, Jack«, sagte sie. Sie
legte William die Hände auf die Schultern und ließ sie dann an seinen Armen
herabgleiten, um ihn an den Handgelenken festzuhalten. »Er friert, weil so
viele seiner Lieblingskomponisten gestorben sind. Eigentlich sind die meisten
tot, nicht wahr, William?«
    »Tot, kalt und begraben«, bestätigte Jacks Vater zitternd.
    »Und was haben wir hier, hier, hier und überall sonst?« fragte [1096]  Dr. von Rohr und deutete jeweils auf Williams Tätowierungen. »Nichts als das
Lob des Herrn, Loblieder und Trauergebete. Bei Ihnen ist alles entweder
Lobpreisung oder Trauer. Sie danken Gott, William, ansonsten aber betrauern Sie
fast alles und jeden. Na, wie mache ich das bis jetzt?« fragte sie ihn. Jack
merkte, daß sie seinen Vater beruhigt hatte, aber gegen das Zittern war nichts auszurichten.
(Dr. Horvath versuchte es, indem er William die Schultern rieb und ihm – mehr
oder weniger gleichzeitig – ein T-Shirt über den Kopf zu ziehen versuchte.)
    »Sie machen das sehr gut«, lobte Jacks Vater ganz aufrichtig Dr. von
Rohr. Für Sarkasmus fror er zu sehr; wieder klapperten ihm die Zähne.
    »Ihr Körper ist nicht nackt, William. Er ist aufs schönste

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