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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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tot? Und du hast
ihr immer noch nicht verziehen! Wie kommst du dazu, ihr nicht zu verzeihen? Hat
sie dir etwa die Schuld gegeben?«
    »Sie hätte dir auch nicht die Schuld geben dürfen!« rief Jack.
    » De mortuis nihil nisi bonum. Wie gut ist
dein Latein, Jack?« (William wußte offensichtlich, daß Latein nicht Jacks
Stärke war.) »Über die Toten soll man nur Gutes sagen.«
    »Das ist viel verlangt«, sagte Jack.
    »Wenn du ihr nicht verzeihst, Jack, wirst du nie in deinem Leben
eine erfüllende Beziehung zu einer Frau haben. Oder hast du etwa eine gehabt,
von der ich nichts weiß? Dr. García zählt nicht! Emma zählt praktisch auch
nicht.« (Er wußte sogar von Dr. García!)
    Jack hatte nicht bemerkt, wie sein Vater zu zittern begonnen hatte.
Die Arme um sich geschlagen, ging William hin und her, vom Schlafzimmer ins
Wohnzimmer und wieder zurück.
    »Ist dir kalt, Pop?« fragte Jack. Er wußte nicht, woher das »Pop«
kam. (Gott sei Dank nicht von Billy Rainbow – diesmal nicht.)
    »Wie hast du mich gerade genannt?« fragte ihn sein Vater.
    »›Pop‹.«
    »Das gefällt mir!« rief William. »Es ist so amerikanisch. Heather
nennt mich ›Dad‹ oder ›Daddy‹ – du kannst mich nicht auch so nennen. Daß du
mich ›Pop‹ nennst, paßt wunderbar!«
    »Okay, Pop.« Jack dachte schon, sein Vater würde die Sache mit Alice
auf sich beruhen lassen, aber er hatte sich zu früh gefreut.
    »Zeit, die Fenster zuzumachen – abends wird es immer zu kalt«, sagte
William mit klappernden Zähnen. Jack half ihm, die Fenster zu schließen. Obwohl
die Sonne nicht untergegangen [1090]  war, hatte der See eine dunklere Farbe
angenommen. Nur noch wenige Segelboote sprenkelten das Wasser. William zitterte
so heftig, daß Jack die Arme um ihn legte.
    »Wenn du deiner Mutter nicht verzeihen kannst, Jack, wirst du dich
nie von ihr befreien können. Es geht dabei um dich, weißt du – um deine Seele.
Wenn du jemandem verzeihst, der dir weh getan hat, dann ist das so, wie wenn du
aus deiner Haut schlüpfst – dann bist du so frei, so außerhalb deiner selbst,
daß du alles sehen kannst.« Plötzlich hörte William zu zittern auf. Jack trat
ein Stück von ihm zurück, damit er ihn besser sehen konnte. Williams boshaftes
kleines Lächeln war wieder da und verwandelte ihn erneut. »Oha«, sagte Jacks
Vater. »Habe ich etwa Haut gesagt? Ich habe doch
nicht Haut gesagt, oder?«
    »Doch, das hast du«, sagte Jack zu ihm.
    »Oha«, sagte sein Vater erneut. Er knöpfte sein Flanellhemd halb auf
und zog es sich dann über den Kopf.
    »Was ist denn, Pop?«
    »Ach, nichts«, sagte William ungeduldig. Er war damit beschäftigt,
sich die Socken auszuziehen. »›Haut‹ ist einer dieser Auslöser. Es wundert
mich, daß sie dir nichts davon gesagt haben. Wenn sie mir Antidepressiva geben,
können sie nicht erwarten, daß ich mir alle diese blöden Auslöser merken kann!«
    Auf dem Spann seiner Füße, wo das Tätowiertwerden besonders weh tut,
standen Jacks und Heathers Namen: Jack auf dem rechten, Heather auf dem linken
Fuß. (Beide Namen waren vertont, doch Jack konnte keine Noten lesen und sich
deshalb auch keine Vorstellung von der Musik machen.)
    Mittlerweile hatte Jacks Vater auch sein T-Shirt und seine Kordhose
ausgezogen. In seinen gestreiften Boxershorts, die ihm zu groß waren – Jack
konnte sich nicht vorstellen, daß sein Vater sie sich auf einer seiner
Einkaufstouren mit Waltraut Bleibel gekauft hatte –, sah er aus wie ein
ehemaliger Bantamgewichtler. Er wog höchstens achtundfünfzig bis sechzig Kilo –
Jacks alte [1091]  Gewichtsklasse. Die Tätowierungen, die den sehnigen Körper seines
Vaters bedeckten, hatten eine Patina wie feuchtes Zeitungspapier.
    Doc Forests Tätowierung hob sich so deutlich wie eine Verbrennung
von all den Noten ab. Die Worte, die Williams Herz nicht so nahe waren, wie er
es gern gehabt hätte, zeichneten wie ein Peitschenhieb die linke Seite seines
Brustkorbes.
     
    Die Tochter des Kommandanten;
ihr kleiner Bruder
    »Es sind nicht die Tätowierungen, mein lieber Junge«, sagte
Jacks Vater, als er nackt vor ihm stand. Williams Hände, sein Gesicht, sein
Hals und sein Penis waren die einzigen Stellen seines Körpers, die nicht von
einem nahezu uniformen, teils ins Graue verblaßten Blau-Schwarz waren. »Es ist
alles, was ich wahrhaft gehört und empfunden habe – alles, was ich jemals
geliebt habe! Es sind nicht die Tätowierungen, die mich gezeichnet haben.« Für
einen kleinen Mann hatte er

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