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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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übermäßig lange Arme, wie ein Gibbon.
    »Vielleicht solltest du dich anziehen, Pop, damit wir essen gehen
können.«
    Jack sah das unschöne Stück Musik, den runzeligen Ausriß eines
Notenblatts an der linken Hüfte seines Vaters, wo Beachcomber Bill ihn nach
Überzeugung von Jacks Mutter einst gezeichnet hatte, die Tätowierung, die laut
Tatovør-Ole schon in der Planungsphase schiefgegangen war. Von den Noten, die
sich über die Innenseite des rechten Bizeps wanden, erhaschte Jack nur einen
flüchtigen Blick. Diese Tätowierung war größtenteils dem Blick entzogen, ein
Fehler, den entweder Chinaman oder Beachcomber zu verantworten hatte. Das
Kirchenliedfragment auf seiner linken Wade dagegen, das »Erlöse mich, du Odem
Gottes« war – sowohl in puncto Text als auch in puncto Noten – [1092]  hervorragend
gemacht, genau wie Tatovør-Ole gesagt hatte. (Es mußte das Werk von Charlie
Snow oder von Matrosen-Jerry sein.)
    Was das Lieblingsosterlied seines Vaters, »Christ der Herr ist uns
erstanden«, anging, so stand es für Jack auf dem Kopf, doch wenn sein Vater auf
der Toilette saß, konnte er die Noten lesen. Diese Tätowierung bestand
lediglich aus Noten ohne Text. Um welches Lied es sich handelte, wußte Jack nur
aufgrund der Stelle, an der es sich befand, und weil es auf dem Kopf stand –
und natürlich erinnerte er sich daran, daß Aberdeen Bill sie William gestochen
hatte. Diese sehr alte Tätowierung wurde, genau wie Heather ihm erzählt hatte,
von einer neueren überlappt, nämlich Walthers »Wachet auf, ruft uns die
Stimme«, deren oberste zwei Zeilen dort begannen, wo sich das Halleluja des
Refrains von »Christ der Herr« hätte befinden müssen.
    Sein Vater sprang wie ein Affe auf dem Bett auf und ab. Mit einer
Fernbedienung, die er in einer Hand hielt, hatte er das Klinikbett in
waagerechte Position gestellt. Es war schwer, seine Tätowierungen genauer ins
Auge zu fassen, beispielsweise präzise festzustellen, welche längere und
komplizierte Phrase von Händel sich in seiner Nierengegend befand. Jack wußte
nur, daß Tatovør-Ole sie gestochen hatte. (»Noch mehr Weihnachtsmusik«, hatte
Ole wegwerfend gesagt.) Aber Jack erkannte immerhin so viel, daß er zu dem
Schluß kam, es handele sich um den Chor »For Unto Us a Child is Born« aus
Händels Messias – und wenn das stimmte, dann war das
daneben Widors Tokkata.
    Herbert Hoffmanns entschwindendes Schiff, das fast unterging in
einem Ozean von Musik, war wegen Williams Gehüpfe auf dem Bett noch schwieriger
zu erkennen. Und dort, auf der rechten Schulter seines Vaters, erkannte Jack
einen weiteren Tatovør-Ole, der einem entrollten, aus einer Fahne gerissenen
Stück Stoff glich. Es war ebenfalls Bach, doch anders, als Jacks Mutter
geglaubt hatte, keine Weihnachtsmusik – weder etwas [1093]  aus dem
»Weihnachtsoratorium«, noch aus »Canonische Veränderungen über das
Weihnachtslied«. Bei dem Auf- und Abgehüpfe war es schwer, Williams Schulter
deutlich zu sehen, doch Jacks Exeter-Deutsch wurde mit jeder Minute besser:
»Der Tag, der ist so freudenreich.«
    Jack erhaschte auch den Namen Pachelbel, allerdings nicht das
dazugehörige Musikstück, und – halbmondförmig über das Steißbein seines Vaters
gekrümmt – Theo Rademakers räumlich eingeengtes Fragment »Wir glauben all’ an
einen Gott«. (Der Komponist war Samuel Scheidt.)
    Bei Bachs »Jesu, meine Freude«, das Tatoeërer-Pieter Jacks Vater in
Amsterdam gestochen hatte, fehlte tatsächlich ein Teil des Wortes Largo, genau wie Jacks Schwester gesagt hatte. Die
Balbastre-Tätowierung (»Joseph est bien marié«), die neueren Datums war und den
Bach nur leicht überlappte, stammte von einem Künstler, den Jack nicht
erkannte.
    Daß er kein Französisch konnte, ärgerte ihn besonders bei Duprés
»Trois préludes et fugues pour orgue« – ganz zu schweigen von Messiaens »Dieu
parmi nous«, das auf eine römische IX folgte.
    Hieß das »Gott ist unter uns»?, fragte er sich.
    »Ich habe einen Sohn!« schrie sein Vater, während er auf dem Bett
auf- und abhüpfte. »Danke, Gott – ich habe einen Sohn!«
    »Dad, tu dir nicht weh.«
    »Pop«, korrigierte ihn sein Vater.
    »Sei lieber vorsichtig, Pop.«
    Man bekommt leicht Kopfschmerzen, wenn man versucht, die
Tätowierungen eines nackten Mannes zu entziffern, der auf einem Bett auf- und
abhüpft. Jack versuchte, die Bach-Tätowierung auf Williams Rücken zu erkennen,
die angeblich von Sami Salo stammte, und die Noten, die William

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