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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Weinen oder in Wut
gebracht hat, in eine chronologische Ordnung«, sagte sein Vater mit
schmerzverzerrtem Gesicht – als würde ihm jedes Wort, das er sagte, als
Tätowierung in den Brustkorb, in die Nierengegend oder auf den Spann seiner
Füße gestochen, wo Jack seinen Namen und den seiner Schwester gesehen hatte –
all die Stellen, an denen das Tätowiertwerden, wie er wußte, höllisch [1104]  weh
tat, und dennoch hatte William sich dort tätowieren lassen. Überall, wo es weh
tat, war er für sein Leben gezeichnet worden, nur nicht an seinem Penis.
    »Hat diese Therapie denn geholfen?« fragte Dr. von Rohr zweifelnd.
    »Ja, ich glaube schon. Zumindest geht es mir besser als damals, als
ich zum erstenmal zu Dr. García gegangen bin«, sagte er.
    »Und Sie glauben, es ist dieses Prinzip der chronologischen Reihenfolge,
das Ihnen geholfen hat?« fragte Dr. Krauer-Poppe. (In ihren Augen, das merkte
Jack, war die Methode, die Hochs und Tiefs des eigenen Lebens in eine
chronologische Reihenfolge zu bringen, nicht so verläßlich wie die Einnahme von
Medikamenten.)
    »Ja, ich glaube schon…«, begann Jack, aber sein Vater fiel ihm ins
Wort.
    »Es ist barbarisch!« brüllte William. »Für mich hört sich das nach
Folter an! Der bloße Gedanke, allem, was einen je zum Lachen, zum Weinen oder
in Wut gebracht hat, eine chronologische Reihenfolge aufzuzwingen – also, das
ist das Masochistischste, wovon ich je gehört habe! Du mußt verrückt sein!«
    »Ich finde, es funktioniert, Pop. Das mit der chronologischen
Ordnung wirkt beruhigend auf mich.«
    »Mein Sohn hat offensichtlich Wahnvorstellungen«, sagte William zu
seinen Ärztinnen.
    »Er ist nicht derjenige, der in einer Anstalt untergebracht ist,
William«, erinnerte ihn Dr. von Rohr.
    Dr. Krauer-Poppe schlug die Hände vor ihr hübsches Gesicht. Einen
Moment lang befürchtete Jack, das Wort Anstalt könnte
ein Auslöser gewesen sein. Die Doc-Forest-Tätowierung auf dem Brustkorb seines
Vaters war eindeutig ein Auslöser, allerdings keiner, bei dem es kein Halten
mehr gab – so jedenfalls Jacks Eindruck. William hatte beide Hände wieder auf
den Tisch gelegt.
    In diesem Augenblick erschien der Kellner, ein kleiner Mann, [1105]  der
ebenso kräftig auf den Fußballen federte, wie William oder Mr. Ramsey es je
getan hatten – allerdings war er dick. Er hatte einen kleinen Mund und einen
übergroßen Schnurrbart, der ihn beim Reden an der Nase zu kitzeln schien. »Was
darf ich Ihnen zu trinken bringen?« fragte er. (Es klang, als handelte es sich
um ein einziges Wort.)
    »So ein Zufall«, sagte Jacks Vater und meinte damit das Erscheinen
des Kellners im passenden Moment; der Kellner jedoch glaubte, William habe
etwas bestellt.
    »Bitte?« fragte er.
    »Ein Bier«, sagte Jack und deutete auf sich selbst, um weitere
Konfusion zu vermeiden.
    »Ich wußte gar nicht, daß du Alkohol trinkst«, sagte sein Vater mit
plötzlicher Besorgnis.
    »Eigentlich tue ich das auch nicht. Du kannst ruhig zusehen. Ein
ganzes Bier schaffe ich gar nicht«, sagte Jack.
    »Noch ein Bier!« sagte sein Vater zu dem Kellner und deutete auf
sich selbst.
    »William, Sie trinken keinen Alkohol – nicht einmal ein halbes
Bier«, erinnerte ihn Dr. von Rohr.
    »Ich möchte das, was Jack bekommt«, sagte William wie ein
quengeliges Kind.
    »Nicht zusammen mit den Antidepressiva. Wirklich nicht«, sagte Dr.
Krauer-Poppe.
    »Ich kann mir etwas anderes bestellen«, schlug Jack vor. »Das macht
nichts.«
    »Jacks Deutsch wird sich mit der Zeit verbessern«, sagte William zu
seinen Ärztinnen.
    »Sein Deutsch ist ausgezeichnet, William«, sagte Dr. von Rohr.
    »Siehst du? Sie mag dich, Jack«, sagte sein Vater. »Ich habe dir
doch gesagt, das ist eine Beischlaftasche!«
    Die Ärztinnen beschlossen, ihn zu ignorieren, und bestellten [1106]  eine
Flasche Rotwein. William bestellte ein Mineralwasser. Jack sagte dem Kellner,
er habe es sich anders überlegt. Ob er ihnen wohl eine große Flasche
Mineralwasser und kein Bier bringen könne?
    »Nein, nein! Trink du das Bier!« sagte William und nahm Jacks Hand
in seine behandschuhten Finger.
    »Kein Bier«, sagte Jack zum Kellner, »nur Mineralwasser.«
    Sein Vater saß schmollend am Tisch und baute aus Messer, Löffel und
Gabel einen wackeligen Turm. »Scheißamerikaner«, sagte er. Er blickte auf, um
festzustellen, ob sein Sohn sich provozieren ließ. Das war nicht der Fall. Dr.
von Rohr und Dr. Krauer-Poppe wechselten einen Blick, sagten jedoch

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