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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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begann mit etwas, was Emma Oastler als
»Einschlafgeschichte« bezeichnete. Immer war es Emma, welche die Geschichte
erzählte – ein früher Hinweis auf ihre spätere Berufung. Während Wendy und
Charlotte von einem Kind zum anderen gingen und sich davon überzeugten, daß die
Gummimatten ausgerollt, die Schuhe ausgezogen und alle Kinder gut zugedeckt waren,
begann Emma in dem halbdunklen Raum mit ihrer Geschichte.
    Die ersten Worte waren immer: »Es war ein mieser Tag, und du bist
sehr müde.« Die Geschichten sollten die Kinder in den Schlaf geleiten, hatten
aber die gegenteilige Wirkung: Die Vorschüler waren zu verängstigt, um an
Schlaf auch nur zu denken. In einem oft wiederholten Klassiker unter Emmas
Geschichten verlor Miss Sinclair die gesamte Vorschulklasse in der
Fledermaushöhle des Royal Ontario Museum. Bei seinem ersten Besuch im Royal
Ontario Museum war Jack in der dritten Klasse, und seine Lehrerin war Miss
Caroline Wurtz.
    Miss Wurtz war die Lehrerin, an die sich Jack am liebsten erinnerte,
und das nicht nur wegen ihrer fragilen Schönheit. Sie war ihm eine wichtige
Hilfe bei der frühen Entfaltung von Bühnenpräsenz – auch dies ein Gebiet, auf
dem sie Beeindruckendes vollbrachte. Miss Wurtz begeisterte sich für die
darstellenden Künste; bei den unzähligen Schulaufführungen, in denen Jack
auftrat, führte meist sie die Regie. Hinter dieser dramaturgischen Begabung
blieben ihre Talente als Lehrerin allerdings zurück; sie [189]  hatte keine Ahnung,
wie sie in ihrer Klasse für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Abseits der Bühne,
außerhalb des Rampenlichts – entweder in ihrer undisziplinierten Klasse oder in
der geringfügig gesetzloseren Welt dort draußen – war Miss Caroline Wurtz ein
Wesen, das leicht zu verwirren war, über keinerlei Selbstvertrauen verfügte und
nicht einen Funken Organisationstalent besaß.
    Bei Schulausflügen war Miss Wurtz derart unfähig, daß sie der Star
in einer von Emma Oastlers Geschichten hätte sein können. Als sie in der
Fledermaushöhle des Royal Ontario Museum zusammenbrach, durchlebten die meisten
der Drittkläßler Emmas klassische Horrorgeschichte. (Daß sie inzwischen nicht
mehr fünf, sondern acht Jahre alt waren, spielte kaum eine Rolle, denn die
Fledermaushöhle war ihnen beängstigend vertraut.)
    Als die Lautsprecher verkündeten, in einigen der Säugetiersäle sei
vorübergehend der Strom ausgefallen, wußten die Kinder, daß das nur der Auftakt
war. »Keine Panik«, sagte die Lautsprecherstimme, während Miss Wurtz zu
schluchzen begann. »Die Störung wird in Kürze behoben sein.« Das ultraviolette
Licht in der Fledermaushöhle funktionierte noch; es war das einzige Licht, das
noch funktionierte, genau wie in Emmas Geschichte.
    In Emmas Version hatten die wehrlosen Kinder aus ungeklärten Gründen
keine andere Wahl, als in die Höhle zu kriechen und bei den Fledermäusen zu
schlafen. Emma ermahnte sie, auf den entscheidenden Unterschied zwischen den
angeblichen »Sauggewohnheiten« der Vampirfledermaus und des Riesenflughundes zu
achten. Sie mußten die Augen stets fest geschlossen halten, denn sonst würde
das ultraviolette Licht sie erblinden lassen, und während sie schliefen oder
vorgaben zu schlafen, mußten sie genau darauf achten, an welcher Stelle sie
binnen kurzem den warmen, feuchten Atem spüren würden.
    Wenn sie den Atem an der Kehle spürten, deutete das auf eine [190]  Vampirfledermaus hin; die Kinder mußten dann mit den Armen um sich schlagen
und ihren Hals mit beiden Händen schützen. (In Emmas Worten: »Ihr müßt
regelrecht durchdrehen.«) Wenn jedoch der erwähnte warme, feuchte Atem im
Bereich des Nabels zu spüren war – nun, das war der Teil des Körpers, der den
widerwärtigen Riesenflughund besonders interessierte. Er erwärmte den Bauch
seiner Opfer, bevor er mit seiner rauhen Zunge das Salz aus ihren Bauchnabeln
leckte. Das fühlte sich zwar nicht besonders schön an, führte aber nicht zu
schweren Verletzungen. Wenn sich ein Flughund auf ihnen niederließ, mußten die
Kinder unbedingt stillhalten, denn erstens waren Flughunde zu groß, um sich von
Kinderarmen verscheuchen zu lassen, und zweitens wurden sie laut Emma erst dann
wirklich gefährlich, wenn man sie erschreckte.
    Jack erinnerte sich, daß Jimmy Bacon gefragt hatte: »Und was macht
ein erschreckter Flughund?«
    »Sag’s ihm lieber nicht, Emma«, hatte Charlotte Barford gesagt.
    Das Ende von Emmas Geschichte über die allein gelassenen

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