Bis ich dich finde
Kinder der zweiten Klasse zu äußerst aufmerksamen Kindern. Sie
hörten Mr. Malcolm konzentriert zu, ließen seine Frau aber nicht aus den Augen.
Manchmal – nicht öfter als zweimal pro Woche und dann auch nur für
zwei, drei Sekunden – wußte der müde aussehende Mr. Malcolm nicht, was er sagen
sollte. Dann begann Rollstuhl-Jane eine mit mehrfachen Kollisionen verbundene
Fahrt durch das Klassenzimmer. Sie raste durch den Mittelgang, wobei der
Rollstuhl die Tische streifte und sie sich die Knöchel stieß.
Während Mr. Malcolm davoneilte, um entweder die
Schulkrankenschwester oder (im Falle kleinerer Verletzungen) den
Erste-Hilfe-Koffer zu holen, blieb Mrs. Malcolm unter der provisorischen
Aufsicht der Kinder zurück. Eines hielt den Rollstuhl von hinten fest, so daß
sie nicht unkontrolliert herumfahren [219] konnte; der Rest der Klasse stand
reglos um sie herum, gerade außerhalb ihrer Reichweite. Die Kinder hatten
Anweisung zu verhindern, daß sie den Rollstuhl verließ, obwohl diese
Siebenjährigen dazu wohl kaum imstande gewesen wären. Glücklicherweise
versuchte Mrs. Malcolm nie zu fliehen. Sie fuchtelte mit den Armen und rief die
Namen der Kinder, die sie sich in der ersten Woche des Schuljahrs eingeprägt
hatte.
»Maureen Yap!« rief Mrs. Malcolm.
»Hier, Ma’am«, rief Maureen zurück, und Mrs. Malcolm sah mit blinden
Augen in ihre Richtung.
»Jimmy Bacon!« schrie Mrs. Malcolm.
Jimmy stöhnte. Mit Rollstuhl-Janes Ohren war alles in Ordnung; sie
fuhr herum und sah ihn blicklos an.
»Jack Burns!« rief sie eines Tages.
»Ich bin hier, Mrs. Malcolm« sagte Jack. Selbst in der zweiten
Klasse war er seinen Altersgenossen in Hinblick auf Intonation und Artikulation
weit voraus.
»Dein Vater hat auch schön gesprochen«, sagte Mrs. Malcolm. »Dein Vater
ist böse«, fügte sie hinzu. »Laß dich nicht vom Satan versuchen, damit du nicht
so wirst wie er.«
»Nein, Mrs. Malcolm, bestimmt nicht.« Jack sagte das zwar mit
größter Zuversicht, doch er wußte, daß seine Chancen in dieser beinahe
ausschließlich von Mädchen bevölkerten Welt von St. Hilda ausgesprochen
schlecht standen. Bei der Großen Wette, von der Emma Oastler nur in jenem
ehrfürchtigen Ton sprach, der sonst für ihre Lieblingsbücher und -filme
reserviert war, favorisierte man die Durchsetzungskraft von Williams Genen.
Wenn Schürzenjägerei erblich war, dann hatte Jack sie ganz bestimmt geerbt. In
den Augen fast aller in St. Hilda, selbst in denen von Mrs. Malcolm mit ihrem
äußerst eingeschränkten peripheren Sehvermögen, war Jack Burns der Sohn seines
Vaters – oder stand jedenfalls im Begriff, es zu werden.
»Du kannst den Leuten nicht vorwerfen, daß sie sich dafür [220] interessieren, Jack«, warf Emma nachdenklich ein. »Ist doch auch aufregend
zu sehen, wie du dich entwickelst.« Offenbar interessierte sich auch Mrs.
Malcolm dafür, welche Rolle Jacks Erbgut bei seiner Entwicklung spielen würde.
Doch das Schlimmste an Jane Malcolm war ihre Reaktion, wenn ihr Mann
– mit der Krankenschwester oder dem Erste-Hilfe-Koffer – ins Klassenzimmer
zurückkehrte. »Da bin ich – ich bin wieder da, Jane!« verkündete er.
»Habt ihr gehört, Kinder?« sagte Mrs. Malcolm dann. »Er ist wieder
da! Er ist nie lange weg, und er kommt immer wieder zu mir zurück!«
»Bitte, Jane«, sagte Mr. Malcolm beschwichtigend.
»Mr. Malcolm liebt es, sich um mich zu
kümmern«, sagte Rollstuhl-Jane zur Klasse. »Er tut alles für mich – alles, was ich nicht kann.«
»Beruhige dich, Jane, bitte«, sagte Mr. Malcolm jedesmal, doch sie
ließ nicht zu, daß er ihre Finger mit den aufgeschürften Knöcheln in seine
Hände nahm. Zunächst langsam, dann immer schneller, schlug sie ihn ins Gesicht.
»Mr. Malcolm liebt es, alles für mich zu
tun!« schrie sie. »Er füttert mich, er zieht mich an, er wäscht mich –«
»Jane, Liebling –«, versuchte Mr. Malcolm zu sagen.
»Er wischt mich ab!« schrie Mrs. Malcolm.
Das war immer das Ende; von da an stöhnte und wimmerte sie nur noch.
Jimmy Bacon stöhnte mit, und bald ertönten dann die beeindruckenden
Deckennuckelgeräusche der Booth-Zwillinge, die sie auch ohne Decken von sich
geben konnten. Das Fersengetrommel der French-Zwillinge ließ nie lange auf sich
warten. Und Jack sah verstohlen zu Lucinda Fleming, deren Blick gewöhnlich auf
ihn gerichtet war. Nichts an ihrem heiteren Lächeln verriet die geheimnisvolle
Wut in ihr. Willst du sie sehen? schien das Lächeln
zu sagen. Na
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