Bis in alle Ewigkeit
ich nichts.«
»Und was waren ihre Großeltern?«, fragte Subow.
»Der Vater meiner Mutter war sein Leben lang Buchhalter im Landwirtschaftsministerium. An ihn kann ich mich erinnern. Mein anderer Großvater war Pilot, aber er war schon tot, als mein Vater geboren wurde.«
Sofja wandte sich endlich ihrem Carpaccio zu. Die rosigen Lachsscheiben schmeckten wunderbar, etwas Derartiges hatte sie lange nicht gegessen, und sie kniff vor Behagen die Augen zusammen.
»Schmeckt’s?«
»Ja, sehr.«
»Haben Ihnen die Rosen gefallen?«
Sofja verschluckte sich und musste husten. Kulik goss Wasser ein und reichte ihr das Glas. Sie trank gierig, und der Husten legte sich.
»Wir konnten Sie telefonisch nicht erreichen.« Subow bedachteSofja erneut mit einem Lächeln. »Wir wussten, dass Sie Geburtstag hatten, sogar einen runden. Es ist bei uns üblich, unseren Mitarbeitern zu gratulieren und sie zu beschenken. Sie sind zwar noch nicht Mitglied unseres Teams, aber ich hoffe, dass Sie es bald sein werden.«
Moskau 1916
Der Antwortbrief von Doktor Ljamport aus Charkow kam recht schnell. Der Doktor teilte mit, er habe den Jungen Iossif Katz tatsächlich fünf Monate lang behandelt. Tuberkulose, Krebs, Dystrophie und Blutarmut seien auszuschließen. Wahrscheinlich leide das Kind an einer seltenen Form kindlicher Auszehrung. Im Übrigen sei das an sich keine Diagnose, denn hinter der alten Definition der »kindlichen Auszehrung« verbergen sich viele Krankheiten, die der Medizin noch unbekannt seien. Die Krankheit sei nicht erblich bedingt, niemand in Ossjas Familie habe an etwas Ähnlichem gelitten. Die übrigen Kinder der Familie seien gesund.
»Die Familie selbst existiert allerdings nun nicht mehr«, schrieb Ljamport. »Im Juni des vergangenen Jahres geschah ein Unglück. Die Eltern des Jungen, seine Großmutter und sein älterer Bruder sind bei einem Feuer im Sommerhaus ums Leben gekommen. Die Polizei weiß bis heute nicht, ob es sich um einen Unfall oder um Brandstiftung gehandelt hat. Iossif besuchte zu der Zeit seine verheiratete älteste Schwester in Odessa (ich hatte ihm Seebäder verordnet). Wie das Kind nach Moskau und auf die Kirchentreppe gelangt ist, weiß ich nicht. Andere Angehörige konnte ich bislang nicht ausfindig machen. Ich habe mich beim Polizeimeister erkundigt, und er sagte, weder in Charkow noch in Odessa habe sich jemand wegen desVerschwindens des Jungen Iossif Katz an die Polizei gewandt. Seine Schwester und ihr Mann sind aus Odessa fortgezogen, wohin, ist unbekannt.«
Ossja lebte inzwischen die dritte Woche im Lazarett. Bei ihm waren sämtliche medizinischen Tests vorgenommen worden, verschiedene Fachärzte hatten ihn untersucht. Alle redeten genau wie Ljamport von kindlicher Auszehrung. Sweschnikow fuhr mit Ossja zu dem berühmtesten Moskauer Kinderarzt, Professor Grischin. Und Grischin sprach das Wort aus, das Sweschnikow längst im Kopf herumspukte: Progerie. Ein äußerst seltenes und rätselhaftes Leiden unbekannter Herkunft. Ein Kind wird gesund geboren. Doch sein Körper verschleißt in zehnfachem Tempo, als durchlebte er an einem Tag einen ganzen Monat, in einem Monat ein Jahr. Es altert rasend schnell, bleibt dabei ein Kind und stirbt mit elf, zwölf Jahren als uralter Greis. Wie das zu behandeln ist, weiß niemand.
Ossja las Conan Doyle und Cooper, spielte mit dem Feldscher Wassiljew Dame, malte Aeroplane, Unterseeboote und Luftschiffe, unterhielt die Nonnenschwestern mit Szenen aus Was ihr wollt und König Lear und bettelte Tanja an, mit ihm ins Künstlertheater zu gehen.
»Wenn Sie Angst haben, mein Anblick könnte das Publikum erschrecken, kann ich mich ja als Dame verkleiden und einen Hut mit dichtem Schleier aufsetzen. Dann sieht keiner, dass ich grauhaarig und faltig bin. Ich wäre eine Liliputanerin, geheimnisvoll und interessant. Liliputanern ist doch der Theaterbesuch nicht verboten, oder?«
»Gut, nach Ostern gehen wir beide ins Künstlertheater«, versprach Tanja.
Sie bat ihren Vater, Ossja aus dem Lazarett mit nach Hause zu nehmen.
»Er kann in meinem Zimmer wohnen. Was hat es für einen Sinn, ihn hierzubehalten, wenn er sowieso nicht geheilt werden kann?«
Der Professor war dagegen. Ossja habe ein schwaches Herz. Im Lazarett gebe es alles Nötige für Hilfe im Notfall. In Wirklichkeit hatte er nur Angst, dass der Junge Tanja zu sehr an Herz wachsen könnte, wie ihm selbst.
»Warum glaubst du, man dürfe niemanden lieben, der jeden Augenblick sterben kann?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher