Bis in alle Ewigkeit
chronischer Verstopfung einher. Dagegen helfen Klistiere und Bittersalz.«
Kaffee und Kuchen wurden gebracht. Der Professor aß mit Appetit, Tanja aber konnte nicht. Ihr blieben die Bissen im Hals stecken. Sie sah ständig das faltige Kindergesicht vor sich, das zahnlose Lächeln. Und hörte ein schwaches Flüstern, wie damals auf der Kirchentreppe: »Hilf mir, hilf mir!« Riesige braune Augen schauten sie an, voll ewiger, alters- und zeitloser Trauer.
Moskau 2006
Als sie das Restaurant verließen, verabschiedete sich Kulik zärtlich von Sofja, küsste und umarmte sie. Subow brachte sie in einem schwarzen Mercedes mit Chauffeur nach Hause. Unterwegs stellte er ihr harmlose und angenehme Fragen: über ihre Kindheit, darüber, warum die Biologie sie so gereizt hatte.
Auf einer Bank auf dem Hof saß Nolik und rauchte.
»Hallo. Ich habe dir doch Schlüssel gegeben«, sagte Sofja.
»Ja, ich dachte auch, dass ich die hätte, aber es sind die Autoschlüssel.«
Zusammen fegten sie den Schnee von Sofjas Volkswagen. Um nicht wieder eingekeilt zu werden, parkte sie den Wagen vorsorglich um. Schon in drei Stunden musste sie zum Flughafen, ihre Mutter abholen.
»Und, wie war’s mit Kulik?«, fragte Nolik, als sie die Wohnung betraten.
»Nolik, man hat mir eine Arbeit in Deutschland angeboten. In einer neueröffneten Filiale des Instituts für experimentelle Biokybernetik. Sie stellen eine internationale Gruppe junger Wissenschaftler zusammen. Daher kommen übrigens auch die Rosen. I. S., das ist Iwan Subow, er ist für die Kadersuche zuständig. Kulik hat uns im Restaurant miteinander bekannt gemacht. Hast du den Mercedes gesehen? Das ist seiner, der von I. S.«
»Stark. Gratuliere. Und warum machst du dann so ein Gesicht? Zahlen Sie in Euro?«
»Nein. In ukrainischen Griwna. Wie soll ich das Bim beibringen? Wie kann ich für ein ganzes Jahr in ein fremdes Land gehen? Ich habe keinen Reisepass. Ich habe Angst vorm Fliegen. Dieser Subow hat mir nicht gefallen, trotz seiner Rosen und seines bezaubernden Lächelns. Er spielt einem was vor. Ich kenne solche Typen – scheißfreundlich, wenn sie was von dir wollen, aber wenn sie nichts von dir wollen oder du ihnen, Gott bewahre, in die Quere kommst, dann gehen sie nicht nur über dich hinweg, dann zermalmen sie dich.«
»Hör auf zu jammern. Noch will dich keiner zermalmen. Rosen, Restaurant, Aussicht auf eine tolle Arbeit. Was spulst du dich so auf? Sag lieber – war das Restaurant gut? Hat das Essen geschmeckt?«
»Ja, sehr. Wieso?«
Sofja verzog das Gesicht und mühte sich, einen Stiefelreißverschluss aufzuziehen. Er klemmte, und das bekümmerte Sofja ernsthaft, denn sie hatte keine anderen Winterschuhe. Nolik hatte inzwischen längst Schuhe und Jacke abgelegt und hockte vor dem offenen Kühlschrank. Er war leer, und das bekümmerte Nolik sehr.
»Wenn ich hungrig bin, kommen mir alle möglichen Gefühle und Gedanken«, sprach er in seinem samtenen Reklamebass.
»Hilf mir bitte mal, die Stiefel auszuziehen«, bat Sofja.
Nolik zerrte zu heftig, und die Reißverschlusszunge brach ab. Ohne zu überlegen, zog Nolik den Stiefel von Sofjas Bein und wischte sich die Hände an seinen Jeans ab.
»Hylozoistisches Syndrom«, sagte Sofja.
»Was?«
»Das ist eine Krankheit, die ich habe.«
»Mal was Neues. Reicht dir die Mittelohrentzündung nicht?« Nolik berührte ihre Stirn. »Fieber hast du keins.«
»Nein«, bestätigte Sofja, »und auch keine anderen Stiefel, keinen anderen Mantel und nichts zu essen im Kühlschrank. Die Rolltreppe bleibt stehen, der Zug fährt nicht weiter, Schlüssel und Handschuhe verschwinden, das Geld ist alle, Strumpfhosen gehen kaputt, der Kaffee kocht über. Hylozoismus, das ist eine philosophische Lehre, nach der alles, was uns umgibt, lebendig ist. Alles, verstehst du? Dieser Hocker hier, mein kaputter Stiefel, die Mantelknöpfe, die Rolltreppe, der Zug, der Bahnsteig, die Metro, der Kühlschrank, den du nicht wieder zugemacht hast. All diese Dinge sind lebendig, und im Moment mögen sie mich nicht.«
»Na, der Kühlschrank hat wohl eher was gegen mich als gegen dich«, murmelte Nolik betreten. »Sag mal, was ist das denn für ein Blödsinn?«
»Das ist kein Blödsinn. Daran haben nicht die dümmsten Menschen geglaubt: Goethe, Giordano Bruno, Diderot. Ich glaube nicht daran, aber bei mir ist es ein Syndrom.«
»Und das Geld ist wirklich alle?«, fragte Nolik vorsichtig.
»Papas Reserve ist noch da, aber die will ich nicht anreißen.
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