Bis in alle Ewigkeit
heraus und die rote Ledermappe und öffnete sie. In der Mappe lag ein vergilbtes, zerknittertes kariertes Blatt aus einem Schulheft, mit Kopierstift in rascher, schiefer Schrift vollgeschrieben. Das Blatt war in Plastik eingeschweißt. Außerdem lagen in der Mappe mehrere Fotos von Oma Vera, Vaters Mutter. Eines davon war das gleiche wie das mit der Jahreszahl 1939, aber nur halb so groß. Irgendwer hatte das Bild des jungen Mannes säuberlich herausgeschnitten.
Moskau 1916
Im Lazarett liefen alle wie aufgescheucht herum – Seine Exzellenz wurde erwartet, der oberste Lazarettinspektor. Der ehemalige Gendarm General Graf Pjotr Ottowitsch Flosselburg demonstrierte eifrig seinen Patriotimus, denn er war Deutscher und fürchtete, man könne ihn der Sympathie für den Feind oder, Gott behüte, der Spionage verdächtigen.
Seinen Posten verdankte er der Protektion durch Rasputin, außerdem genoss er die Gunst Ihrer Majestät. Wenn er ein Lazarett besuchte, kontrollierte er vor allem, ob es in jedem Raum eine Ikonenecke gab, ob dort ein Öllämpchen brannte, ob genug Öl darin und von welcher Qualität es war. Ärzte, Feldscher und Krankenschwestern belehrte er, das Wichtigste an ihrer Arbeit sei nicht so sehr die Linderung physischer Leiden als vielmehr die Erziehung der Leidenden im Geiste moralischer Reinheit und christlicher Demut durch Vorlesen erbaulicher Literatur in den Krankensälen der Soldaten und Offiziere.
Verwundete behandelte er leidlich gut. Jene Patienten aber,die nicht das Glück gehabt hatten, an der Front durch eine Kugel oder einen Granatsplitter verwundet zu werden, sondern sich die Ruhr, Typhus oder Tuberkulose eingefangen, sich im feuchten Schützengraben Rheumatismus weggeholt oder von der Feldküche ein Magengeschwür bekommen hatten, verachtete der Graf und betrachtete sie als Simulanten.
Der Graf beehrte die Lazarette gern überraschend, wie der Fuchs den Hühnerstall. Das genaue Datum des Besuchs Seiner Exzellenz hatte der Chefarzt des Lazaretts diesmal erst einen Tag vorher erfahren, und auch das nur zufällig. Ein Bekannter, ein Ministerialbeamter, hatte es ihm beim Whist geflüstert.
Die ganze Nacht lärmten in den Fluren Bohnermaschinen und störten den Schlaf der Verwundeten. Noch vor Sonnenaufgang wurden die Schwestern zum Wäschebügeln geschickt. Es gab nicht genug Matratzen. Aus dem Lager wurden alte Säcke geholt, hastig gestopft und mit Stroh gefüllt.
Die Verwundeten, die im Flur lagen, mussten in Krankensälen untergebracht werden. Betten wurden verrückt, wobei einige zusammenbrachen. Eilig wurde nach dem Tischler gesucht. Er wurde gefunden, war aber betrunken, denn er hatte am Tag zuvor den Namenstag seiner Frau gefeiert, und zwar zusammen mit drei Freunden, Pflegern aus dem Lazarett, die am Morgen ebenfalls noch nicht nüchtern waren. Zu den üblichen Lazarettgerüchen gesellte sich noch der alkoholischer Ausdünstungen. Aus der Küche roch es nach angebranntem Brei, der Gestank ließ sich durch noch so langes Lüften nicht beseitigen, und Seine Exzellenz hatte eine äußerst empfindliche Nase. Der Chefarzt verlor die Beherrschung, packte den Lagerverwalter am Kragen, schüttelte ihn und brüllte so, dass ihm der Schweiß ausbrach. Dem armen Lagerverwalter fiel nichts anderes ein, als den alten Pförtner in die nächstgelegene Drogerie nach Eau de Cologne zu schicken, um es in allen Räumenzu versprühen. Bald konnte man in den Krankenzimmern und Fluren kaum noch atmen, so penetrant war der Geruch nach allerbilligstem Eau de Cologne.
Sweschnikow stieß auf der Treppe mit seiner Tochter zusammen. Sie rannte mit einem Packen Krankenblätter nach unten, wobei sie nach hinten schaute und der oben stehenden Schwester Arina zurief: »Noch zwei traumatische Neurotiker aus dem Offizierszimmer fünf!«
Der Professor hielt seine Tochter fest. Ihre Wangen glühten, auf ihrer Oberlippe glänzten Schweißperlen.
»Warum rennst du so?«
»Arseni Kirillowitsch hat mit dem Obuchow-Krankenhaus gesprochen, sie nehmen unsere Neurotiker, sie haben freie Betten!«
»Warum rennst du so?«, wiederholte der Professor seine Frage und schüttelte Tanja sanft an der Schulter.
»Aber Seine Exzellenz …«, flüsterte Tanja verwirrt, als erwachte sie gerade.
»Marsch in mein Zimmer! Wasch dich, nimm Baldrian und setz dich zu Ossja.« Sweschnikow nahm ihr die Krankenblätter aus der Hand. »Darum kümmere ich mich. Geh!«
»Aber Papa, das ist mir peinlich, alle rennen, bereiten sich vor. Wie
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