Bis in alle Ewigkeit
Leutnant ihre Huld.
Er irrt umher in seiner Wüste –
Des alten Grafen Nebensohn.
So fängt er an, der grob versüßte,
Der schönen Gräfin Tränenstrom.«
Die Zarin lief voran, öffnete die Tür und ging hinein.
In dem engen Gang zwischen den beiden Betten stand Ossja, das grauhaarige, ausgezehrte Kind. In seinem pergamentenen Gesicht leuchteten riesige braune Augen. Er schwang die gertendünnen Arme im Takt der Verse. Die beiden Verwundeten hingen am Tropf und waren in Verbände gewickelt. Als Ossja die ältere Frau in der bekannten Tracht der barmherzigen Schwester erblickte, nickte er, lächelte und rezitierte noch ausdrucksvoller weiter:
»Voll Raserei wirft sie die Hände,
Zigeunrinhaft, fast wie behext.
Die Trennung. Wild erhitzte Klänge
Aus dem Klavier – dahingehetzt.«
»Wer ist das?«, fragte der Graf in drohendem Flüsterton.
»Das ist Mandelstam«, antwortete Ossja, »ein junger Dichter, noch nicht sehr bekannt, aber in zehn Jahren wird ihn ganz Russland kennen und in fünfzig Jahren die ganze Welt, Sie werden sehen. Wir sind Namensvettern, er heißt auch Ossip. Und er ist auch Jude, genau wie ich. Großartige Verse, nicht wahr?«
Moskau 2006
Sofjas Vater Dmitri Nikolajewitsch Lukjanow erinnerte sich nicht an seine Mutter. Sie war 1942 gefallen, da war er zweieinhalb Jahre alt. Ihr wurde postum der Titel »Held der Sowjetunion« verliehen, nach ihr wurden Straßen, Schulen und Pionierfreundschaftenbenannt. Dmitri Lukjanow wusste von klein auf, dass er kein x-beliebiger Junge war, sondern der Sohn einer berühmten Partisanenkundschafterin, die eine Heldentat vollbracht, schrecklichen Folterungen standgehalten und niemanden verraten hatte und von den Faschisten aufgehängt worden war.
Ein berühmter Maler hatte ein riesiges Ölgemälde geschaffen – Veras Hinrichtung . Ein Birkenhain, ein aus Baumstämmen gezimmerter Galgen. Ein Mädchen in einem zerrissenen Kleid, barfuß, mit langen blonden Haaren, steht auf einer Kiste. Der Henker in Naziuniform wirft ihr die Schlinge um den Hals. Rundherum Faschisten. Das Mädchen sieht den Betrachter direkt an. Von wo man auch schaut, sie blickt einen an.
Veras Gesicht wurde von dem Foto abgemalt, das hinter Glas auf dem Bücherregal stand.
1949, als Sofjas Vater zehn wurde und im Armeemuseum in die Pionierorganisation aufgenommen wurde, sah er das Bild dort zum ersten Mal.
»Seht mal, Kinder, das ist die berühmte Vera Lukjanowa, die Mama von unserem Dmitri«, sagte die Lehrerin.
»Oh, Dima, wie schrecklich! Die Faschisten hängen deine Mama auf!«, rief ein Mädchen.
Dmitri stürzte zu dem Bild, hämmerte mit den Fäusten auf die gemalten Faschisten ein und rief immer wieder: »Mama! Mamotschka! Ihr Schweine! Ihr sollt meine Mama nicht töten!«
Auf dem graugelben Blatt in der roten Ledermappe stand, mit Kopierstift geschrieben:
»Mein lieber, geliebter kleiner Sohn Dimotschka!
Du bist noch ganz klein und wirst das hier nicht so bald lesen. Vergiss mich nie. Werde groß und stark. Lerne fleißig, lies kluge Bücher, bleib immer ein ehrlicher Mensch, hab keineAngst vor den Schwierigkeiten im Leben. Alles lässt sich korrigieren, bis auf Verrat und den Tod. Liebe unsere große sowjetische Heimat und denke daran, dass deine Mama für diese Freiheit gestorben ist, für deine Zukunft, mein Sohn. Ich liebe dich so sehr, mein Kleiner, dass ich auch, wenn ich nicht mehr bin, immer bei dir sein werde. Ich fühle keinen Schmerz und keine Angst mehr. Es wird hell. Ich küsse dich, Dimotschka, deine Augen, deine Stirn.
Deine Mama.«
Dieser Brief war wie durch ein Wunder erhalten geblieben und hatte seinen Adressaten erreicht, den kleinen Jungen, der im August 1941 mit seiner Großmutter von Moskau nach Tomsk gezogen war.
Als der Krieg ausbrach, studierte Vera im fünften Studienjahr an der philologischen Fakultät. Sie konnte gut Deutsch, ging an eine Schule für Aufklärer und wurde mit dem Fallschirm im feindlichen Hinterland abgesetzt, in Weißrussland. Zunächst kämpfte sie in einer Partisaneneinheit, dann wurde sie Stenotypistin in der deutschen Kommandantur in Grodno. Als die Faschisten wieder einmal einen Verbindungsmann festnahmen, wurde Vera verraten.
Den Brief hatte ein Mädchen aufbewahrt, das mit Vera in einer Zelle gesessen hatte. Das Mädchen stammte aus dem Ort, ihre Mutter konnte sie mit zwei Flaschen Selbstgebranntem und einer Speckseite von dem Polizisten loskaufen, der sie bewachte. Nach dem Krieg machte das Mädchen Veras
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