Bis in alle Ewigkeit
Interessanteste kommt doch noch, wie ich gegen den obersten Aztekenpriester gekämpft habe. Er war ein Zauberer.«
»Ossja, hör auf«, flüsterte Tanja ihm ins Ohr, »das kannst du später erzählen, nicht jetzt.«
»Wie denn? Später kann ich nichts mehr erzählen. Bald kommt der Graf, der Lazarettinspektor, und dann muss ich mich verstecken, denn Seine Exzellenz ist Antisemit. Nicht ausgeschlossen, dass die Zarin ihn begleitet, und sie mag auch keine Juden.«
Im Zimmer wurde es schrecklich still. Die Zarin erblasste. Alle schauten abwechselnd zu ihr und zu Ossja. Man hörte das heftige, empörte Schnaufen des Grafen. Niemand wagte ein Wort zu sagen. In die angespannte Stille hinein sagte eine leise, gepresste Stimme: »Majestät, nehmen Sie es ihm nicht übel, verzeihen Sie dem Jungen.«
Das war einer der Verwundeten.
»Oh«, quiekte Ossja erschrocken und versteckte sich hinter Tanja.
»Ein lieber Junge«, wiederholte die Zarin, als die Prozession den Raum verlassen hatte und weiterging, »aber was hat er denn eigentlich?«
»Progerie, Majestät«, antwortete Sweschnikow, »eine äußerst seltene Krankheit, bei der ein Kind altert, bevor es erwachsen wird, und mit elf, zwölf Jahren an Altersschwäche stirbt.«
»Kann man ihm helfen?«
»Ich fürchte, nein, Majestät.«
»Wo sind seine Eltern?«
»Er ist Waise.«
»Wir könnten für ihn beten, es ist alles Gottes Wille.« Die Zarin richtete den Blick an die Decke. »Er ist wie ein Symbol für sein unglückliches Volk. Er sollte getauft werden.«
Viertes Kapitel
Nach jener wilden Silvesternacht in Courchevel hatte sich Pjotr Colt stark verändert. Er schaute jetzt aufmerksamer in den Spiegel. Falten, Tränensäcke, Altersflecke, die aussahen wie Rost – das alles hatte er früher nicht bemerkt, nun aber sah er es wie unter einer Lupe.
Manchmal verharrte sein Blick lange auf den Platinzeigern seiner Armbanduhr. Es war eine sehr gute Uhr, sie hatte siebentausend Euro gekostet und ging absolut genau. Doch Colt hatte das Gefühl, dass sie zu schnell ging. Die Zeiger bewegten sich allzu rasch. Die Zeit schmolz dahin, als stehle sie jemand, etwa so, wie jemand durch illegales Anzapfen einer Leitung Erdöl stiehlt.
Er ertappte sich plötzlich dabei, dass er andere genauer betrachtete, Menschen in seinem Alter und ältere. Dabei fielen ihm diverse interessante Details auf.
Der Bankier A. färbte sich Haare und Augenbrauen. Der Politiker B., Chef einer Parlamentsfraktion, hatte vor den Wahlen etwas mit seinem Gesicht gemacht, sich Ödeme entfernen und sich liften lassen. Der Chef eines großen Konzerns, krankhaft fett und vollkommen kahlköpfig, kehrte von einer Reise dünn und straff zurück. Und mit echten Haaren auf dem Kopf.
Doch nach einiger Zeit – ein paar Monaten, einem Jahr – war das Gesicht des Politikers B. wieder aufgedunsen und faltig und der Konzernchef wieder dick und kahlköpfig.
Bankier A. starb an einer Thrombose. Er war in Colts Alter. Er hatte nicht geraucht, keinen Alkohol getrunken und nicht gekifft. An freien Tagen war er auf dem Tennisplatz herumgesprungen, im Winter in Eislöcher getaucht. Nach der Beerdigung saß Colt beim Totenschmaus neben einem alten Freund, dem Minister W. Der Minister war acht Jahre älter als er.
»Na, Wowa, was hältst du davon?«, fragte Colt ihn nach dem dritten Glas leise.
»Unsinn, Petja, hör auf, das ist Quatsch! Es sei denn …« Der Minister runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf, flüsterte nur mit den Lippen ein paar Namen und sah Colt fragend an.
»Das habe ich nicht gemeint.« Colt lächelte traurig. »Natürlich hat da keiner nachgeholfen. Es war wirklich ein Blutgerinnsel. Aber macht das denn einen Unterschied?«
»Was? Und ob, einen großen sogar!«
»Ja, vielleicht. Aber es läuft doch auf dasselbe hinaus, Wowa. Noch zehn Jahre, vielleicht zwanzig. Und dann? Thrombose, Krebs, Herzinfarkt, und das wäre noch halb so schlimm, das geht schnell. Aber ein Schlaganfall, Demenz, Lähmung?«
»Was ist los, Pjotr, hast du Depressionen?« Der Minister sah ihn mitfühlend an. »Pass lieber auf, so was bleibt nicht ohne Folgen, besonders in unserem Alter. Alle Krankheiten kommen von Niedergeschlagenheit und Stress, man muss sich überwinden und Optimist bleiben.«
»Ja, du hast recht, Wowa. Man muss Optimist bleiben und sich noch lächelnd in den Sarg legen.«
»Na, na, nun hör aber auf.« Der Minister klopfte ihm auf die Schulter. »Kein Trübsal blasen! Klar enden wir alle so, ob mit
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