Bis in alle Ewigkeit
stöhnte auf und griff sich an den Hals.
»Verrenkt?«, fragte Wolodja mitfühlend. »Das tut weh, ich weiß. Da helfen Massagen und ein warmer Umschlag. Sie werden schon deshalb mitkommen, Fjodor Fjodorowitsch, weil mein Vater es nicht schätzt, wenn in seiner Abwesenheit jemand in sein Arbeitszimmer geht und in seinen Papieren wühlt.«
»Reden Sie keinen Unsinn.« Agapkin, das Gesicht verzogen und sich den Hals reibend, kehrte an den Tisch zurück. »Michail Wladimirowitsch schließt sein Arbeitszimmer nicht ab und verbietet mir nicht, hineinzugehen. Ich habe ein Buch gesucht.«
»Die Bücher stehen im Regal. Nicht im abgeschlossenen Schreibtischfach. Aber dort liegt das lila Heft.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich wohne hier.« Wolodja nahm einen tiefen Zug, spitzte die Lippen und blies akkurate Rauchkringel zur Decke. »Würde Vater erfahren, dass ich die Schublade geöffnet habe, würde erwütend werden und streng mit mir reden, mir aber bald verzeihen. Erstens bin ich sein Sohn, und er liebt seine Kinder sehr. Zweitens weiß er, dass ich keine Ahnung von Medizin habe und also kein Wort verstehen würde, selbst wenn ich es gelesen hätte. Bei Ihnen aber, Fjodor Fjodorowitsch, sieht die Sache anders aus.«
»Was schlagen Sie vor?«, fragte Agapkin, das Gesicht noch immer leidend verzogen.
»Nicht, was Sie denken. Wir werden nicht zusammen das Schubfach aufbrechen und das Heft lesen. Vorerst schlage ich Ihnen vor, mich zu begleiten. Nein, seien Sie nicht beleidigt. Sagen Sie ja, wenigstens aus bloßer Höflichkeit. Immerhin schlafen Sie in meinem Zimmer und essen mit mir an einem Tisch.«
»Ihre Renata interessiert sich für Verjüngung?«, fragte Agapkin leise.
»Nein.« Wolodja lächelte sanft und drückte seine Papirossa aus. »Sie ist auch so jung und schön. Sie möchte einfach ein paar unschuldigen Geschöpfen, die Sie morgen Abend aufschneiden wollen, das Leben retten.«
Moskau 2006
Sofja fuhr sehr vorsichtig. Ihr war schwindlig. Sie musste mehrmals am Straßenrand halten und eine Weile mit geschlossenen Augen sitzen bleiben.
»Nolik, mein Lieber, warum hast du noch immer keinen Führerschein? Eine Schande für einen Mann in deinem Alter«, murrte sie. »Du könntest jetzt am Steuer sitzen, und ich würde auf der Rückbank friedlich schlafen.«
Nolik hörte sie gar nicht. Er redete von den sowjetisch-deutschenBeziehungen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Der segelohrige junge Mann in der Uniform eines SS-Leutnants neben Sofjas Großmutter und mit einem Säugling auf dem Arm, der womöglich Sofjas Vater war, ließ ihm keine Ruhe.
»Im Grunde kam es nicht nur durch den bösen Willen Hitlers und Stalins zum Krieg. Alle waren schuld, auch die Franzosen und Engländer und die Amerikaner. 1938 grassierte eine wahre Epidemie unglaublicher Lügen und allgemeinen Verrats auf höchster Ebene.«
»Diplomaten haben immer gelogen, zu allen Zeiten«, sagte Sofja matt und wechselte auf die weniger belebte Nebenspur.
»Ja, das stimmt. Aber was vor diesem Krieg los war, das war etwas Besonderes. Keine einzige Absprache funktionierte. Eben unterschriebene Abkommen wurden am nächsten Tag ohne jede Vorwarnung gebrochen. Stalin traute den Engländern nicht, konnte Chamberlain nicht ausstehen und rechnete mit einem Überfall Hitlers auf Großbritannien. Chamberlain und Daladier hofften, dass sich die beiden Menschenfresser, der rote und der braune, gegenseitig die Kehle durchbeißen würden. Es war ihnen scheißegal, dass dabei Millionen Menschen in Russland und Deutschland umkommen würden, gemein und rücksichtslos verrieten sie die Tschechoslowakei und überließen Polen den beiden Menschenfressern.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Sofja erstaunt.
»Du weißt doch, ich interessiere mich seit meiner Kindheit für Militärgeschichte. Über den Zweiten Weltkrieg könnte ich wahrscheinlich eine Doktorarbeit schreiben, Dokumentarfilmer beraten und Vorlesungen halten. Aber mich fragt ja keiner, und keiner hört mir zu. Interessiert dich das?«
»Ja, sehr.«
»Nachdem Molotow und Ribbentrop den berühmten Pakt unterzeichnet hatten, entwickelten sich zwischen der UdSSR undDeutschland nicht nur Handelsbeziehungen, sondern auch militärische Kontakte. Eine Gruppe von Piloten der Luftwaffe wurde beispielsweise auf einem Militärflugplatz in Moskau ausgebildet.«
»Und was hat Oma Vera damit zu tun?«
»Vielleicht war sie dort Dolmetscherin, sie konnte doch sehr gut Deutsch.«
»Na und? Angenommen, sie war
Weitere Kostenlose Bücher