Bis in alle Ewigkeit
Lupe benutzte, er hatte nur die Lampe eingeschaltet. Seine Augen waren erstaunlich scharf, er kniff sie nur leicht ein.
Sofja wartete geduldig und beobachtete sein Gesicht. Die dünne Haut spannte sich so straff über Stirn und Wangenknochen, dass der Anblick regelrecht schmerzte: Gleich würde sie reißen und aufplatzen. Unter den Augen, die einmal groß und braun gewesen und nun rot und eingefallen waren, hingen schwere lila Tränensäcke. Wimpern und Augenbrauen hatte Agapkin längst verloren. Ob er noch Haare auf dem Kopf hatte, war nicht auszumachen. Wie damals nahm er auch heute die schwarze Mütze nicht ab.
Das Schweigen, Schnaufen und Mümmeln dauerten endlos. Sofja versuchte, wenigstens den Schatten eines Gefühls in diesem Gesicht zu erhaschen – vergeblich.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte der Alte schließlich.
»Was?«, fragte sie und erhob sich halb aus dem Sessel.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass Tanja je Blusen mit hohem Kragen getragen hat. Sie hatte einen schönen Hals und hat ihn stets entblößt. Sie sehen ihr ähnlich, aber wissen Sie, was der Unterschied ist? Tatjana Michailowna war sich ihrer Reize bewusst, Sie dagegen, Sofja Dmitrijewna, sind sich selbst gegenüber gleichgültig. Aber die äußerliche Ähnlichkeit ist verblüffend. Augen, Nase, Mund, Gesichtsform, sogar Mimik und Stimme. Allerdings kann ich mir Tanja schwer in einem solchen unförmigen Pullover vorstellen, so ungepflegt, mit so krummem Rücken und in so hässlichen Pantoffeln.«
»Also, die Pantoffeln hat mir Ihr … dieser Kahlgeschorene gegeben«, bemerkte Sofja.
»Sie hätten sich weigern sollen! Selbst in Zeiten des Verfallsund Hungers, von 1918 bis 1922, hat Tanja es fertiggebracht, sich besser zu kleiden und auszusehen als Sie jetzt. Halten Sie sich gerade, Sofja, machen Sie keinen Buckel und schneiden Sie sich die Haare nicht so kurz. Übrigens sind sie etwas heller als die von Tanja.«
»Gut, ich werde mir Mühe geben.« Sofja reckte unwillkürlich die Schultern und strich sich das Haar glatt. »Sie sagten schon letztes Mal, dass ich Sweschnikows Tochter ähnlich sähe. Wahrscheinlich kommt Ihnen das nur so vor. Ich habe keine Bilder von ihr gesehen, aber ich habe gelesen, dass sie eine Schönheit war, und das bin ich keineswegs.«
»Wo haben Sie das gelesen?«
»In den Memoiren von Ljubow Sharskaja.«
»Darin ist vieles gelogen, aber das über Tanja ist wahr. Sie haben Bilder von ihr gesehen, Sie haben sie mir doch selber mitgebracht, und vermutlich schauen Sie doch ab und zu mal in den Spiegel?«
»Wieso in den Spiegel? Und die Fotos … Ich hatte keine Ahnung, dass sie das ist. Außer Sweschnikow kenne ich niemanden darauf.«
»Na, wissen Sie! Ich sitze hier vor Ihnen, und hier bin ich auf den Fotos. Aber es sind noch mehr Leute darauf, die Sie kennen. Ihre Großmutter väterlicherseits, die Kundschafterin Vera, Heldin der Sowjetunion. Sie ist lange vor Ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater, Dmitri Michailowitsch Danilow, als Baby.«
»Das stimmt nicht. Meine Großmutter hieß tatsächlich Vera. Aber mein Vater heißt Dmitri Nikolajewitsch Lukjanow.«
»Ja, natürlich.«
Er hat sich bloß versprochen, entschied Sofja, das letzte Mal hat er mich gründlich nach meinen Eltern und meiner Großmutter ausgefragt. Merkwürdig, alles hat er sich gemerkt, nur Vaters Vaters- und Familiennamen hat er verwechselt.
»Fjodor Fjodorowitsch, wissen Sie vielleicht, wer da meinen Vater auf dem Arm hält? Der junge Mann in der Uniform eines SS-Leutnants, wer ist das?«
Agapkins Kopf fing heftig an zu zittern, und er streckte die Hand aus.
»Bitte nicht schreien. Das ertrage ich nicht.«
»Ich schreie gar nicht«, sagte Sofja erstaunt, »aber wenn Sie es so empfunden haben, entschuldigen Sie bitte.«
»Woher haben Sie die Fotos?«
»Mein Vater hat sie aus Deutschland mitgebracht.«
»Dmitri? Aus Deutschland mitgebracht?« Agapkin bewegte erneut mümmelnd die Lippen. »Warum kommen Sie dann damit zu mir? Fragen Sie ihn.«
»Das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Er ist gestorben.«
Agapkins Gesicht geriet in Bewegung, legte sich in Falten, der Mund stand offen, das Kinn zitterte heftig. Seine Augen schienen sich gerötet zu haben und feucht zu schimmern.
»Wann?«, fragte er dumpf.
»Vor elf Tagen.«
»Wie ist es passiert?«
»Er war aus Deutschland zurückgekommen. Er war ein wenig seltsam, düster. Aber er klagte nicht über Herzbeschwerden, er war überhaupt ein gesunder Mann. Die ganze
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