Bis in den Tod hinein
dreißig Sekunden, bis eine Stimme aus der Gegensprechanlage klang.
» Ich bin es, Kommissar Baum. Entschuldigen Sie bitte, dass ich so spät noch störe, aber es ist wichtig. Darf ich kurz raufkommen? Ich habe zwei Kollegen dabei.«
» Das klingt ja nicht so gut. Kommen Sie rauf!«, erhielt Dennis zur Antwort, bevor das Türschloss mechanisch entriegelt wurde.
Als hätte sein Gesprächspartner ihn sehen können, lächelte Dennis freundlich und entgegnete: » Vielen Dank, Herr Venske. Es wird auch nicht lange dauern.«
66
» Jetzt sag’s schon«, bettelte Dennis, während die drei zum Fahrstuhl gingen. » Wie bist du auf ihn gekommen?«
Boesherz wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Dennis’ Handy klingelte.
» Castella«, stellte er nach einem Blick auf das Display fest. » Sie wird wissen wollen, warum ich vorhin zu Drexlers Haus gefahren bin.«
» Darum kümmere ich mich später selbst«, entgegnete Boesherz, während sich die Fahrstuhltür öffnete. » Und jetzt schaltet bitte alle eure Telefone aus. Wir können da oben keine Störungen gebrauchen.«
Ohne zu widersprechen, wies Dennis den Anruf seiner Vorgesetzten ab und stellte danach sein Mobiltelefon aus. Bartholy tat es ihm gleich.
» Entscheidend war, was Drexler mir über sein Buch gesagt hat«, kam Boesherz nun auf Dennis’ Frage zurück, während sich die Tür des Fahrstuhls hinter ihnen schloss. » Es nützt Ihnen nichts, wenn Sie es in der Asservatenkammer verschwinden lassen. Das Werk ist mein Vermächtnis an die Menschheit – und es wird an die Öffentlichkeit kommen! Dafür habe ich gesorgt.« Boesherz erinnerte sich an jede Silbe, jeden Blick und jede Regung Anselms. » Das war keine leere Drohung, sonst hätte er mir das Werk ja nicht in die Hand gegeben, bevor er sich das Leben genommen hat. Es muss also eine Kopie geben. Er wollte seine grausame Mordserie zum Nutzen der Menschheit verbreiten. Dafür braucht man Presse. Und wer neigt dazu, Blut und Gemetzel an die größtmögliche Glocke zu hängen? TV -Superproduzent Veit Venske!« Boesherz sah während seines Vortrags in einen der Spiegel in der kleinen Kabine, um den Sitz seiner Krawatte zu kontrollieren. » Sicher, das tun Tausende anderer Medienfritzen auch. Aber die produzieren allesamt nicht die Show, die von der Frau präsentiert wird, in die Anselm Drexler verliebt war. Eine Frau, die hart durchgreift und jungen Mädchen vermittelt, dass sie still sein sollen, tun, was man ihnen sagt, schön aussehen müssen und unter keinen Umständen widersprechen dürfen. Tanja van Beuten war für Drexler der fleischgewordene Traum einer Frau. Und Veit Venske war ihr Produzent. Verbindung Nummer eins.«
Der Fahrstuhl war unterdessen etwa auf einem Drittel der Strecke angekommen. Bartholy und Dennis hatten jeden Gedanken an das bevorstehende Manöver vorübergehend vergessen und lauschten Boesherz stattdessen voll Interesse. Severin genoss die Aufmerksamkeit sichtlich, während er sich zu weiteren Schlussfolgerungen verstieg.
» Drexler war nicht nur Korrektor beim Fadenkreuz, er hat unter anderem auch Manuskripte für TV -Produktionen redigiert. Verbindung Nummer zwei. Somit war mir zwar verständlich, woher Drexler und Venske einander kannten, aber nicht, aus welchem Grund der Produzent Tanja entführt haben sollte. Hier ist meine Theorie: Wir wissen, dass es sehr schwer gewesen sein muss, Tanja überhaupt zu entführen, weil sie ständig irgendwen um sich herum hatte. Dieses Argument verkehrt sich aber ins Gegenteil, wenn man annimmt, dass sie von jemandem entführt wurde, der zu ebendiesen Menschen gehört hat, die dauernd um sie herum waren. Venske hatte reichlich Gelegenheit, Tanja zu entführen. Es bleibt aber die Frage: Warum sollte er das tun? Wenn Venske mit Drexler als Redakteur zusammengearbeitet hat, kann ihm als Menschenkenner nicht entgangen sein, dass sein freier Mitarbeiter neurotisch und manipulierbar war. Vermutlich hat Drexler mehrfach versucht, über Venske an Tanja heranzukommen. Weil das aber nicht funktioniert hat, hat Drexler schließlich seine Familienplanung aufgegeben und sich stattdessen dafür entschieden, nun sein monumentales Werk anstelle eines Sohnes in die Welt zu setzen. Anselm hatte vermutlich bereits seine Opfer ausgesucht und sie wochenlang ausspioniert, parallel dazu hat er seine Gedichte vorbereitet. Er wollte seinem Vater noch vor dessen Tod einen Stammhalter präsentieren, aber weil er das nicht hinbekommen hat, musste er ihm eben auf
Weitere Kostenlose Bücher