Bis in den Tod hinein
intoleranter gegenüber seiner Umwelt werden lassen.«
Boesherz griff jetzt nach einem der Ordner auf seinem Schreibtisch, öffnete ihn und nahm die Fotos der ersten fünf Opfer heraus. Er brachte sie in die Reihenfolge ihrer zugeordneten Zahlen und zitierte dann Anselms Liste: » Regel eins: Achte das Leben. Das war er selbst. Zweitens: Lüge nicht. Dafür hat er sich Jurek ausgesucht. Steve Moldenhauer war die Drei: Achte das Gesetz. Sozialschmarotzer Steinmetz war Vertreter der Vier: Diene der Gesellschaft.«
Bartholy folgte den Ausführungen aufmerksam.
» Auf der Fünf hatte Fassadenkletterer Gereon Voss die Ehre: Meide die Gefahr. Meide das Feuer war die Sechs mit Autozünder Nils Rau. Auf der Sieben kam dann der Franzose, der Gänse gemästet hat: Quäle die Tiere nicht. Und seine eigene Kollegin hat er sich für den Schluss aufgehoben: Befolge die Regeln.«
Boesherz bemerkte, dass sich Linda mit jedem seiner Worte ein wenig beruhigte.
» Hast du etwa von der Liste gewusst?«, traute er sich vorsichtig zu fragen.
Anscheinend hatte er Bartholys wunden Punkt getroffen.
» Ich hätte es zumindest wissen können«, gab sie kleinlaut zu. » Er hat immer wieder darüber gesprochen, dass sein Vater ihm klare Leitregeln an die Hand gegeben hat, und davon, wie wegweisend die für ihn waren. Aber dass es dabei um so eine konkrete Liste ging, wusste ich nicht. Hätte ich doch bloß mal näher nachgehakt. Dann wäre ich vielleicht sogar auf ihn gekommen.«
» Du hast nicht nachgehakt, weil er dir unsympathisch war«, antwortete Boesherz. Bartholys Mimik schien zu signalisieren, dass er mit seiner Vermutung recht hatte. » Du wolltest dich gar nicht so genau mit ihm und seinen Regeln beschäftigen. Aber er war eben ein verdammt guter Redakteur, deswegen hast du dich immer wieder mit ihm unterhalten müssen. Und genau deswegen brauche ich dich jetzt! Du kennst ihn nämlich besser als jeder andere.«
Boesherz trat hinter Bartholys Stuhl und begann, ihr leicht den Nacken zu massieren.
» Du bist im Augenblick die vielleicht wichtigste Figur in meinem Spiel.«
» Welches Spiel?«, fragte Bartholy, während sie entspannt Severins Berührung genoss.
» Das Spiel, in dem es darum geht, Drexlers letztes Opfer zu retten.«
Verwirrt drehte Linda sich zu Boesherz um.
» Aber seine Liste ist doch abgearbeitet?«
Severin ließ von Linda ab und sammelte die ausgebreiteten Fotos der Leichen wieder zusammen.
» Er hatte seine Finger auch bei der Entführung von Tanja van Beuten im Spiel«, erklärte er währenddessen. » Ich glaube, dass sie noch lebt. Aber sobald bekannt wird, dass Drexler tot ist, wird sein Hintermann Tanja beseitigen.«
Bartholy schüttelte ungläubig den Kopf.
» Hintermann? Ich verstehe kein Wort.«
Severin schien überzeugt.
» Ich weiß, wer van Beuten in seiner Gewalt hat. Das Problem ist, dass ich es ihm nicht beweisen kann. Wir müssen ihm also eine Falle stellen. Und dafür brauche ich jemanden, der sich mit Psychologie genauso gut auskennt wie mit den Denkweisen und Handlungsmustern von Psychopathen.«
Hatte Boesherz kurz zuvor noch verständnisvoll und sanft zu Linda gesprochen, redete er jetzt gestochen klar und eindringlich.
» Linda, du kannst Tanja van Beuten noch retten! Wenn ihr Entführer allerdings Verdacht schöpft, dann sind wir erledigt. Traust du dir das zu?«
Bartholy zog ein Papiertaschentuch hervor, schnäuzte sich kurz, atmete dann mehrere Male tief ein und aus und gab schließlich mit einer Entschlossenheit, die Boesherz imponierte, zur Antwort: » Was muss ich tun?«
64
Tanja hatte das versprochene Wasser nicht bekommen. Niemand war mehr zu ihr auf den Dachboden gekommen, nachdem ihr gescheiterter Fluchtversuch entdeckt worden war.
» Warum musstest du auch so frech sein?«, fragte Oma Erna.
Sie hatte sich zwischenzeitlich wieder zu ihrer Enkeltochter gesellt, die nach wie vor unter der wärmenden Decke auf dem harten Boden lag.
» Das Wasser sollte mich sowieso nicht retten«, gab Tanja zur Antwort. » Es sollte nur verhindern, dass ich vorher sterbe.«
» Vorher?«
Oma Erna saß auf einer Höhe neben Tanja, als liege diese in ihrem Bett. Dass die Proportionen und räumlichen Verhältnisse dabei nicht stimmten, war ohne jeden Belang. Alles, was Tanja jetzt noch wahrnahm, waren ohnehin nur Halluzinationen.
» Ich sollte nicht verdursten, und ich sollte auch nicht erfrieren«, erklärte sie ihrer Großmutter, und sie fühlte sich wohl und geborgen dabei. » Ich
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