Bis in den Tod hinein
Gespräch mit Jureks Nachbarin war der Unfallfahrer von damals ausfindig gemacht und vorübergehend unter Polizeischutz gestellt worden.
» Weil Verfehlung Nummer zwei auf Jacks Liste die Lüge ist. Der Unfallfahrer hat aber im gesamten Prozess geschwiegen. Keine Aussage– keine Lüge.«
» Sehr gut. Trotzdem bleibt eine Frage, die zwar weniger augenfällig ist, sich aber eigentlich viel mehr aufdrängt: Der Name Kai Jurek ist nicht durch die Presse gegangen. In allen Berichten wurde er nur Kai J. genannt.«
Auch Olivia hatte sich beim Gespräch mit Jureks Nachbarin an diesem Detail gestoßen.
» Dich interessiert, woher Jack überhaupt wusste, wen er ermorden muss?«
» Auch. Aber das geht mir immer noch nicht tief genug. Mich interessiert, warum Jack mit jedem seiner Morde unvorsichtiger wird. Ihm muss doch klar sein, dass wir jetzt viel gezielter nach ihm fahnden können.«
Noch auf der Fahrt vom Tatort ins LKA hatte Severin Boesherz sein Team angewiesen, alle Prozessbeteiligten von damals ausfindig zu machen und daraufhin zu befragen, wer Zugang zur Identität des Zeugen hatte oder wer in der Vergangenheit versucht hatte, diese in Erfahrung zu bringen.
Bärbel trat jetzt an den Stehtisch und servierte zwei große Portionen Currywurst mit Pommes frites.
» Das ist Severin Boesherz«, stellte Olivia ihr den neuen Kollegen vor. » Der kommt jetzt öfter.«
» Na, wenn dit nüscht is«, erwiderte Bärbel und musterte den Kommissar mit einem umwerfend komischen Blick. » Is der noch zu haben?«
» Würden Sie mich denn heiraten wollen?«, fragte Boesherz scherzhaft.
» Neee!«, erwiderte Bärbel. » Ick suche noch jemanden, der mir abends die Bude schrubbt!«
» Da ist er genau der Richtige!«, entgegnete Olivia. » Sie sollten mal seine Wohnung sehen! Da kann man vom Boden essen.«
» In meener ooch«, konterte wiederum Bärbel. » Da liegt jenuch rum!«
Mit diesen Worten wandte sich die Wirtin wieder ab und ging mit vorsichtigen Schritten in ihren Imbiss zurück, in dem es dank der Wärmeabstrahlung ihrer Fritteusen angenehm warm war. Boesherz wollte gerade dazu ansetzen, etwas zu sagen, als er am plötzlich veränderten Blick seiner Kollegin bemerkte, dass sich jemand von hinten auf ihn zubewegte. Olivias Miene genügte ihm, um zu erkennen, wer es war.
» Schön, dass Sie uns gefunden haben, Frau Dr. Bartholy«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
» Ihre hellseherischen Fähigkeiten scheinen ja legendär zu sein. Man hat mich schon vorgewarnt«, erwiderte diese und gesellte sich ohne zu fragen zu den beiden Ermittlern. » Und um es gleich anzusprechen: Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie meine Anwesenheit als störend empfinden. Schließlich könnten Sie das ja als eine Herabsetzung in den Augen von Frau Castella sehen. Solche Eitelkeiten sollten unsere Zusammenarbeit aber nicht behindern. Ich glaube nämlich wirklich, dass ich Ihnen helfen kann.«
Dr. Linda Bartholy war eine schlanke, durchaus attraktive Frau in den Vierzigern. Ihr Gesicht war zwar von der Kälte leicht gerötet, strahlte aber mit seinen eleganten Zügen und dem dezent aufgetragenen Make-up eine fast schon selbstverständlich wirkende Schönheit aus. Ihr Haar war dunkel, ihre Kleidung ebenso dezent wie geschmackvoll.
» Na gut«, forderte Boesherz die Expertin heraus. » Dann helfen Sie uns mal.«
Dr. Bartholy tat, als habe sie in Boesherz’ Äußerung keinerlei versteckte Herausforderung erkannt, und antwortete sachlich: » Er hat nicht mehr viel Zeit. Die großen legendären Serienmörder konnten vor allem deswegen oft sehr lange aktiv sein, weil sie mit jeder ihrer Taten besser und professioneller geworden sind. Sie haben Strategien entwickelt, mit denen sie die Polizei auf Abstand halten konnten. Unser Mann– Sie nennen ihn ja wohl Jack– tut das nicht. Jack widmet sich fast täglich einem neuen Opfer, auch schon mal zwei an einem Tag. Er verwendet verschiedene Waffen, und im Fall des aktuellen Opfers hat er sich sogar zum Improvisieren hinreißen lassen. Das kann nur zwei Gründe haben: Entweder ist er dumm, was wir angesichts der Umstände ausschließen können. Oder er hetzt sich durch seine Mordserie, weil ihm die Zeit durch die Finger rinnt.«
» Was hetzt ihn denn so?«, hakte Boesherz nach.
» Irgendetwas, das ihm sogar wichtiger als seine Fantasien ist. Die Methoden, mit denen er seine Opfer tötet, entsprechen einer sehr genauen Planung. Er hat das alles in seiner Vorstellung immer wieder durchgespielt und sich
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