Bis in den Tod hinein
Also: » Die Leidenschaft der jungen Frau teilen nicht viele Teenager.« Warum beherrschen die Menschen denn alle ihre eigene Sprache nicht?
Nachdem Drexler innerhalb einer guten Stunde sämtliche Artikel für das Fadenkreuz aufmerksam durchgegangen war und sie an die Redaktion zurückgemailt hatte, widmete er sich schließlich dem zweiten Teil seiner Arbeit. Zusätzlich zu seiner Tätigkeit beim Fadenkreuz bearbeitete er als freier Redakteur und Korrektor auch Moderationstexte für Fernsehproduktionen, Schriften von Publizisten, Sachbuchautoren oder Arbeiten wie Gebrauchsanweisungen oder Werbetexte.
» In keinster Weise.« Was soll denn das schon wieder? Keiner als » kein« gibt es nicht. Also: » In keiner Weise.«
Als Anselm sich gerade darangemacht hatte, die Moderationstexte einer beliebten Fernsehsendung durchzugehen, in der eine Reihe von Kandidaten unter erschwerten Bedingungen füreinander kochen mussten, klopfte es an die Tür seines Arbeitszimmers. Ohne eine Aufforderung abgewartet zu haben, öffnete jemand und trat ein.
» Herein!«, warf Anselm Schwester Cecilia mit unmissverständlichem Nachdruck entgegen. Diese ging darüber hinweg.
» Sie waren heute Nacht sehr lange unterwegs«, stellte sie stattdessen fest und sah Anselm dabei unzufrieden an. Sie hatte an Paul Drexlers Bett Wache gehalten, während dessen Sohn bei Kai Jurek gewesen war.
» Die Dinge benötigen ihre Zeit. Dafür sollten Sie eigentlich Verständnis haben«, antwortete Anselm mürrisch. » Ich tue, was ich kann, aber die Dinge arrangieren sich eben nicht von selbst.«
» Ich weiß«, räumte Cecilia ein. » Aber vergessen Sie nicht, dass sich Ihr Vater darüber freut, wenn Sie so viel Zeit wie möglich bei ihm verbringen.«
» Das eine sind die persönlichen Bedürfnisse des Einzelnen und derer, die ihm nahestehen. Das andere sind unsere Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber. Ich liebe meinen Vater über alles, aber ebenso wie ich selbst es bin, ist auch er der Meinung, dass es Aufgaben im Leben eines Menschen gibt, die höher und wichtiger sind als unsere persönlichen Ansprüche. Glauben Sie mir einfach, dass alles seine Ordnung hat. Es geht in dieser schweren Zeit vor allem darum, die Regeln zu erhalten und seine Pflicht zu tun. Jeder die seine.«
Schwester Cecilia schwieg dazu. Nicht nur Anselm Drexler selbst, auch das Haus, in dem er mit seinem Vater zusammenlebte, war ihr vom ersten Besuch an auf eine befremdliche Weise unheimlich gewesen. Nichts, absolut gar nichts hier war schmutzig oder gar unordentlich. Anselm verwendete offensichtlich ebenso viel Zeit für die Pflege des Anwesens wie auf seine Arbeit und die Betreuung seines Vaters. Die Zwanghaftigkeit seines Verhaltens war für die erfahrene Krankenschwester sofort offensichtlich gewesen.
Schwester Cecilia steht nicht exakt in der Mitte des Türrahmens. Sie ist etwas zu weit links. Außerdem steht die Tür nicht im rechten Winkel zur Wand offen.
» Da gebe ich Ihnen recht, Herr Drexler«, stimmte sie zu. » Wir sollten uns vielleicht mal ganz in Ruhe darüber unterhalten, wie es weitergehen soll, wenn er… nun ja, wenn sich sein Zustand verschlechtert.«
» Wenn er stirbt!«, korrigierte Anselm die Aussage. » Sein Zustand kann nicht schlechter werden, er kann höchstens noch sterben. Und das wird er schon sehr bald tun.«
Anselm sah sein Gegenüber nicht an. Stattdessen öffnete er jetzt die Datei mit den Moderationstexten der Kochshow.
» Sie dürfen mir glauben, dass ich mit äußerster Eile dabei bin, die entsprechenden Angelegenheiten zu regeln«, versicherte er Cecilia.
» Sprechen Sie bitte nicht so laut.« Die Krankenschwester trat eilig in das Arbeitszimmer ein und schloss die Tür hinter sich. » Er versteht jedes Wort.«
» Munden!«, rief Anselm plötzlich ohne erkennbaren Grund aus. » Immer wieder! Was finden diese Menschen nur so toll an diesem furchtbaren Wort?«
» Ich verstehe nicht…«
» Hier steht: Es hat den Gästen gemundet. Das bauen die in jede Folge ein, mindestens dreimal! Jedes Mal nehme ich es wieder raus, aber sie begreifen es nicht und schreiben es beim nächsten Mal einfach wieder. Munden ist ein Königswort! So wie weilen, geruhen oder schreiten. Wenn fünf stinknormale Bürger zusammensitzen, dann schmeckt es ihnen vielleicht, aber ganz sicher mundet es ihnen nicht! Dieses Wort ist geschwollen, deplatziert und Ausdruck des unbeholfenen Wunsches, sich gewählt zu artikulieren, obwohl man es nicht kann. Und ich
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