Bis in den Tod hinein
während Boesherz und Olivia ungeduldig auf die Pointe von Ramirez’ Ausführungen warteten.
» Deswegen haben fast alle Geheimdienste Spezialmunition für Schalldämpfer entwickelt. Die Treibladung, also das Schwarzpulver in der Patrone, ist bei solchen Geschossen reduziert. Die Kugel verursacht dann nicht nur einen geringeren Geschossknall, sie fliegt auch weniger schnell durch den Lauf. Beim Austreten durchbricht sie dann auch nicht die Schallmauer. Bei einer solchen Patrone wird der Schuss dann tatsächlich ziemlich gut abgedämpft. Und deswegen ist die Kugel auch nicht durch den Körper des Opfers geschlagen: Sie war mit so wenig Schwarzpulver angetrieben, dass sie einfach stecken geblieben ist. Wir sprechen in solchen Fällen von Nahmunition.«
Boesherz ärgerte sich ein wenig. Eigentlich hätte er selbst darauf kommen müssen, denn schließlich gab es für das Phänomen keine plausiblere Erklärung. Er tröstete sich aber damit, dass er noch nie in seinem Leben eine Pistole mit einem Schalldämpfer abgefeuert hatte. Zudem gehörten die Feinheiten der Waffenkunde nicht zu seinen, sondern zu den Aufgabengebieten des Kollegen.
» Wie lange hat er die Patrone denn deiner Meinung nach gehegt und gepflegt?«, kam Boesherz auf Ramirez’ vorherige Bemerkung zurück.
Der Ballistiker legte Pistole und Schalldämpfer auf einem Tisch ab, zog ein Taschentuch hervor, tupfte sich die Stirn ab und griff dann wieder nach dem Projektil.
» Wenn ich mich nicht irre – mehr als fünfundsechzig Jahre!«
Während Severin und Olivia sichtlich überrascht waren, kam Dr. Bartholy spontan eine Idee.
» Kriegsmunition?«, fragte sie interessiert und notierte sich etwas auf der Rückseite eines Zettels, den sie schnell aus ihrer Handtasche gezogen hatte.
» Es spricht alles dafür«, bestätigte Ramirez. » Die Abdrücke der Züge und Felder auf dem Projektil verraten mir nämlich auch die Waffe, aus der die Kugel abgefeuert wurde: eine Walther P 38.«
» Die P 38 wurde aber auch noch lange nach dem Krieg gebaut«, warf Olivia ein, die im Gegensatz zu Severin eine sehr geübte Schützin war und sich durchaus für Waffen interessierte.
» Da gebe ich dir recht, aber jetzt kommt die Farbe der Hülse ins Spiel«, ging Armando Ramirez mit einem verschmitzten Lächeln auf Olivias Einwand ein.
Der Ballistiker griff nach einem Buch, das bereits vor dem Eintreffen der Ermittler aufgeschlagen auf einem Board gelegen hatte, und präsentierte seinen Gästen darin die Abbildung einer Patrone mit grüner Hülse.
» Im Zweiten Weltkrieg haben Agenten, vor allem aber auch die Waffen- SS , diese spezielle Nahmunition bei Sondereinsätzen benutzt. Um sie kenntlich zu machen, hat man diese Patronen damals mit grünen Hülsen gebaut. Wenn man jetzt diese seltene Patrone im Zusammenhang mit der Waffe betrachtet, dann haben wir es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit historischer Munition aus einer Pistole der Waffen- SS zu tun.«
» Irrtum ausgeschlossen?«, hakte Olivia besorgt nach.
» Ausgeschlossen nicht«, antwortete Ramirez. » Aber ich wäre bereit, die Ausbildungsvorsorge meiner Tochter darauf zu verwetten!«
Boesherz hatte bereits beim Betreten des Labors alle relevanten Details des Raumes in Augenschein genommen. Dabei war ihm auch nicht das aktuelle Weihnachtsfoto entgangen, auf dem Armando Ramirez mit seiner Frau und einem Kleinkind im Arm abgebildet war, das blaue Kleidung und ein Mützchen von Hertha BSC trug. Gerade wollte er seinem Kollegen vorhalten, dass dieser gar keine Tochter hatte, als sich Dr. Linda Bartholy in das Gespräch einbrachte.
» Das ist eine schöne Ergänzung meines Täterprofils.«
» Sie meinen also, Jack ist ein ehemaliger Angehöriger einer Nazi-Elitetruppe?«, verwahrte sich Boesherz gegen die Einmischung. » Und jetzt, mit etwa hundert Jahren auf dem Buckel, entscheidet er sich plötzlich, noch mal zur Höchstform aufzulaufen und eine blutige Schneise durch Berlin zu schlagen? Im Duell gegen junge, kräftige Opfer? Und das Ganze auch noch mitten im tiefsten Winter?«
» Das, was Serienmörder zu dem macht, was sie sind, entwickelt sich sehr früh in ihrem Leben, fast immer während ihrer Jugend«, entgegnete Bartholy. » Kinder, die Strenge und Willkür ausgesetzt sind, können enormen Hass entwickeln. Auf andere, aber vor allem auch auf sich selbst. Nationalsozialismus und Selbsthass gehen miteinander Hand in Hand, und wenn Jack einen entsprechenden familiären Hintergrund hat, dann könnte
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