Bis in den Tod hinein
bemühte– der Gedanke an den Kratzer im Boden ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Manchmal hatte er deswegen ganze Nächte nicht schlafen können. Im hell erleuchteten Kinderzimmer hatte er in ebender Pose auf seinem Bett gekauert, in der er jetzt zu der Stelle sah, die er erst vor wenigen Jahren professionell hatte abziehen und lackieren lassen. Der Kratzer war nun zwar verschwunden, doch noch immer musste sich Anselm mehrmals täglich auf sein Zimmer begeben, um sich wieder und wieder von dieser Tatsache zu überzeugen.
Erst nach einer ganzen Weile wandte er seinen Körper auf die andere Seite, sodass sein Blick nun nicht mehr in sein Zimmer hinein, sondern auf die Wand fiel. Wie jedes Mal erfasste er dabei unwillkürlich die Tafel, die sein Vater über dem Bett angebracht hatte. Damals, kurz nachdem dessen Frau Karin gestorben war.
Drum denk dran, mein Junge: Befolge die Drei!
Anselms Vater Paul war der einzige Sohn von Karl-Wilhelm und Ilse Drexler gewesen. Geboren 1927, hatte Paul den größten Teil seiner Kindheit im sogenannten Dritten Reich verbracht. Sein Vater Karl-Wilhelm war bereits früh Mitglied der NSDAP geworden und noch vor der Machtergreifung Hitlers der SS beigetreten. Die Erziehung seines Sohnes Paul hatte er strikt nach den Ideologien der Nationalsozialisten vorgenommen, sodass der Junge früh in die Hitlerjugend eintrat. In den letzten Kriegsjahren hatte Paul als Soldat der Wehrmacht gegen die Alliierten kämpfen müssen.
Die Nachkriegsjahre brachten viele Veränderungen für den noch jungen Paul. Sein Vater wurde wegen zahlreicher Kriegsverbrechen kurz nach seiner Rückkehr nach Berlin verhaftet und nahm sich wenig später in seiner Zelle das Leben. Drexler, der sich als junger Wehrmachtssoldat nichts dergleichen hatte zuschulden kommen lassen, nahm im Nachkriegsdeutschland eine Stelle in einem Fachbuchverlag an, in dem er aufgrund seiner Führungsqualitäten und Strenge bald zum Abteilungsleiter aufstieg. Pauls Mutter Ilse starb in den späten Sechzigerjahren. Sie hatte nach der Verhaftung und dem Freitod ihres Mannes zurückgezogen gelebt.
Seine spätere Frau lernte Paul Drexler während eines Festes in seiner Kirchengemeinde kennen. Karin war über zwanzig Jahre jünger als er, und der bis dahin alleinstehende Drexler schien in der jungen, freundlichen Frau endlich die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Schon ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung heirateten die beiden, und es dauerte nicht lange, bis Karin Drexler schwanger wurde. Ihren gemeinsamen Sohn nannten sie Anselm, nach Pauls Großvater, einem Veteranen des Ersten Weltkriegs. Nach den schweren Jahren, die die Familie Drexler hinter sich hatte, schien sich für Paul nun endlich alles zum Guten zu wenden. Doch das Glück währte nicht lange. Kurze Zeit nach Anselms Geburt erkrankte dessen Mutter schwer und starb schließlich noch vor dem dritten Geburtstag des Jungen. Von nun an war der bereits fünfzigjährige Paul Drexler allein für die Erziehung seines Sohnes verantwortlich gewesen.
Ich habe es immer befolgt, dachte Anselm beim Anblick der Tafel über seinem Bett. Und bald, Vater, werden es alle tun. Dann ist endlich die Zeit für eine neue Ordnung gekommen. Für unsere Ordnung.
Anselm hatte Steve Moldenhauer beobachtet. Tagelang. Er wusste, mit wem sich der junge Mann traf, wo er einkaufte, welche Buslinien er benutzte und, vor allem, wo er wohnte. Anselm hatte alles ausgearbeitet. Nicht nur der Elektroschocker, die Polaroidkamera und die Pistole aus dem Nachlass seines Großvaters lagen bereit, auch den Kübel mit dem eingebauten Metallhaken sowie die zehn Kilo Salz hatte er vorbereitet. Anselm würde noch einmal die Beutel seines Vaters überprüfen, das Eintreffen von Schwester Cecilia abwarten und sich dann, rechtzeitig bevor die Temperaturen auf ihren nächtlichen Tiefststand gesunken sein würden, auf den Weg machen. Doch gerade als Anselm von seinem Bett aufstehen und noch einmal das Parkett in Augenschein nehmen wollte, klingelte es unerwartet an der Haustür.
Cecilia? Die ist doch erst in zwei Stunden wieder dran.
Anselm sprang hektisch auf, überprüfte im Spiegel den Sitz seiner Haare, rückte seine Brille zurecht, strich seinen Pullover glatt und ging dann mit geraden Schritten die Treppe in den Hausflur hinunter, wobei er darauf achtete, weder das Treppengeländer noch die Wände zu berühren. Bereits als Kind hatte er für sich entschieden, dass jede versehentliche Berührung von Wänden, Bäumen oder
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