Bis in den Tod hinein
meinen Sie mit unterschätzen?«
Der Kaffeetropfen, der unter dem Löffel hängen geblieben war, geriet nun auf das Porzellan und würde in wenigen Augenblicken den Boden der Tasse benetzen. Sollte Sonja, aus welchem Grund auch immer, die Tasse danach auf dem Tisch abstellen, würde sich auch darauf ein Fleck bilden. Anselm wurde jetzt nervös, Schweiß trat auf seine Stirn.
» Unsere Vorfahren haben uns nicht nur ein wunderschönes Land hinterlassen, sondern auch eine wunderschöne Sprache. Es gibt nicht viele Sprachen, die es ermöglichen, selbst kleinste Nuancen in der Bedeutung einer Aussage zu unterscheiden. Und das sollte es sein, woraufhin Sie die Texte überprüfen. Wir sind gewissermaßen die letzte Verteidigungslinie in einem Kampf, in dem es eines unserer höchsten Güter zu verteidigen gilt.«
Sonja bemerkte, dass sich etwas an ihrem Kollegen verändert hatte. Er begann, mit den Füßen zu wippen, und seine Blicke ruhten immer länger und auffälliger auf ihrer Kaffeetasse. Sie war Drexler bislang nur ein paar Mal in der Redaktion begegnet, länger mit ihm unterhalten hatte sie sich aber nie. Anselm verbrachte ohnedies nur noch wenig Zeit im Verlagsgebäude, und er war seiner ungeliebten Kollegin auch meist absichtlich aus dem Weg gegangen. So bemerkte Sonja erst jetzt, dass die geheimnisvollen Andeutungen ihrer Mitarbeiter beim Fadenkreuz weit weniger übertrieben gewesen waren, als sie bislang angenommen hatte.
» Verteidigungslinie?«, fragte sie verwundert nach und verzichtete nun lieber darauf, von ihrem Kaffee zu trinken, den Anselm nach wie vor fest im Blick behielt.
» Wenn einfach jeder nur das nachplappert, was er von den anderen hört, dann ist unsere Sprache dem Untergang geweiht«, erklärte dieser, während er seinen Blick dabei für einen Moment auf Sonja richtete. » Sie haben es heute zum Beispiel zugelassen, dass ein junger Mann aus Finnland im Feuilleton von einem Journalisten als berühmt bezeichnet wurde.«
Sonja hatte eine ganze Reihe von Artikeln für die aktuelle Ausgabe überprüft. Sie musste daher kurz überlegen, worauf Anselm anspielte.
» Ach, dieser Junge aus dem Internet«, fiel es ihr plötzlich wieder ein. » Ja, der hatte in nur einer Woche schon über eine Million Klicks«, verteidigte sie sich und griff verlegen nach ihrer Tasse, ohne es eigentlich gewollt zu haben. Anselm zuckte darüber leicht zusammen, bevor er antwortete: » Dieser junge Mann bewegt vor seiner Webcam zu aktuellen Hits die Lippen und schneidet dabei Grimassen. Selbst wenn er eine Milliarde Klicks damit erreichen würde, würde ihn das nicht berühmt machen. Es gibt auf dem ganzen Planeten vielleicht gerade mal ein paar Hundert Menschen, die berühmt sind. Ihre Lippen zu aktuellen Songs bewegende Teenager zählen mit einiger Gewissheit aber nicht dazu.«
Anselms Unruhe steigerte sich mit jedem Augenblick, in dem er an den Kaffeetropfen an Sonjas Tassenboden dachte. Jetzt, da ihn auch noch die Vorstellung, dass Zigtausende Menschen das Wort berühmt gelesen und es vermutlich auch noch unwidersprochen hingenommen hatten, quälte, konnte er den Anblick der schmutzigen Tasse in Sonjas Hand endgültig nicht mehr länger ertragen. Er griff nach seiner Serviette, die er so abgelegt hatte, dass der schmutzige Teil nach innen gefaltet war.
» Erlauben Sie?«
Damit griff er nach der Tasse seines Gastes, wischte deren Unterseite sauber und befreite dann sowohl den Löffel als auch die Untertasse von den Rückständen des Kaffees.
» Eine kleine Marotte, verstehen Sie es nicht als Kritik.«
Sonja wusste nicht recht, wie sie mit der befremdlichen Situation umgehen sollte, hielt es aber schließlich für das Beste, sie einfach nicht zu kommentieren. Stattdessen fuhr Anselm, jetzt wieder etwas beherrschter, fort: » Berühmt bedeutet: mit Ruhm versehen! Ruhm bezeichnet die höchste Form von Ansehen, die ein Mensch in seinem Leben erreichen kann. Ruhm überdauert seinen Träger. Ruhm überdauert die Zeiten. Ruhm macht den Menschen, der ihn erlangt, unsterblich! Friedrich der Große ist berühmt, Albert Einstein, Nelson Mandela, Mutter Theresa, Beethoven, Goethe und Maria Callas sind berühmt!« Sonjas Puls beschleunigte sich, während Anselm immer emotionaler wurde. » Ein kleiner Milchbubi aus Helsinki kann vor seiner Webcam vielleicht bekannt werden, von mir aus sogar prominent. Lassen wir ihn mit dem Bewegen seiner Lippen und dem Schneiden von Grimassen gar als Idol einer ganzen Generation emporragen.
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