Bis in den Tod hinein
Zu einem Sternchen kann er werden , zu einem Star oder– wenn er denn zu Elvis Presley, Madonna und den Rolling Stones in eine Liga aufsteigen sollte– sogar zum Superstar. Das alles könnte unser kleiner Junge vor seiner Webcam in Finnland vielleicht eines Tages werden. Aber eines wird er mit dem Bewegen seiner Lippen und dem Schneiden von Grimassen niemals, wirklich niemals in seinem ganzen Leben erringen: Berühmtheit! «
Die Stille, die herrschte, nachdem Anselm seinem Ärger Luft gemacht hatte, kam Sonja sogar noch bedrohlicher vor als dessen Ansprache selbst. Aus einer tiefen Verunsicherung heraus versuchte sie, die Wogen zu glätten, indem sie ihrem Kollegen keinen Anlass bot, sich weiter zu echauffieren.
» Da war ich wohl unaufmerksam«, entschuldigte sie sich, um eine Eskalation zu verhindern.
Anselm war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Sonja ihren Fehler zugeben würde. Deswegen und weil der Kaffeefleck ihn nun nicht mehr weiter beunruhigen konnte, kühlte sein erhitztes Gemüt recht schnell wieder ab.
» Verzeihen Sie bitte meine Emotionalität«, fand er wieder zu seinen guten Manieren zurück. » Diese Menschen da draußen verlieren einfach ihre Kultur. Sie interessieren sich nicht mehr für Tugenden, die Regeln der Gesellschaft und des Benimms kennen sie gar nicht mehr. Alles lässt man ihnen durchgehen, und der, der sich noch für Werte einsetzt, wird ausgelacht und an den Rand gedrängt. Die Menschen werden den Tieren immer ähnlicher, weil sie einfach niemand mehr lehrt, etwas anderem zu folgen als ihren egoistischen Instinkten.«
Anselm erhob sich, Sonja nahm den Impuls dankbar auf.
» Vielleicht können Sie mir ja noch ein paar Tipps geben«, schlug sie verunsichert vor, während Drexler sie nun zurück in den Hauseingang geleitete. » Ich muss heute noch den Artikel über diesen Irren freigeben.«
Anselm horchte auf. Er verlangsamte seine Schritte und sah seinem Gast direkt in die Augen.
» Welcher Irre?«
» Na, dieser Serienmörder. Jan Bittrich hat einen tollen Artikel über seinen aktuellen Mord in diesem Park geschrieben.«
» Dessen«, entfuhr es Anselm, ohne dass er sich hätte dagegen wehren können. » Bittrich hat einen Artikel über dessen Mord geschrieben. Der Mord bezieht sich ja nicht auf Bittrich, sondern auf den Mörder. Sind Sie wirklich sicher, dass das Korrektorat der richtige Arbeitsplatz für Sie ist?« Erst als Anselm den verunsicherten, leicht ängstlichen Blick seiner Kollegin bemerkte, ließ er die Zügel etwas lockerer. » Bittrich ist der Ressortleiter, ein guter Mann. Wenn der mal einen Artikel schreibt, dann macht er dabei fast nie einen Fehler. Aber schicken Sie ihn mir ruhig mal per Mail zu, wenn Sie damit durch sind. Ich gucke gern noch mal drüber. Jetzt muss ich Sie aber leider verabschieden, mein Vater braucht mich.«
Sonja kannte die Gerüchte, die über den Zustand von Paul Drexler in der Redaktion kursierten. Vielleicht, so dachte sie, war es ja die Sorge um seinen schwerkranken Vater, die zu Anselms eigentümlichem Verhalten führte. Um sich mit einer versöhnlichen Anmerkung zu verabschieden, sagte sie: » Ihr Vater kann stolz auf Sie sein. Er hat aus Ihnen einen Menschen gemacht, der sich noch für die Regeln der Gesellschaft interessiert.«
Anselm nickte zustimmend, bevor er erwiderte: » Die gute alte Schule.«
26
Berlin, Herbst 1974
Mit jeder Schaufelladung Erde wurde es dunkler um Anselm herum. Verängstigt kauerte er in der Kiste, während sein Vater nicht davon abließ, diese einzugraben.
» Ist das ein schöner Ort?«, fragte Paul Drexler aufgeregt, während er mit schweißbedeckter Stirn immer mehr Erde in die Grube schaufelte. » Möchtest du da unten bleiben?«
Paul Drexler hatte zu keiner Zeit auch nur einen Gedanken darauf verwendet, dass er seine deutlich jüngere Frau würde überleben können. Dass er sich jemals selbst um die Erziehung seines Sohnes würde kümmern müssen, wäre ihm niemals auch nur ansatzweise in den Sinn gekommen. Nach dem frühen Tod seiner Frau war Paul nun aber in ebendiese Lage geraten, und ob er nun wollte oder nicht: Die charakterliche Ausbildung des Jungen war fortan allein seine Aufgabe.
Dem nationalsozialistischen Gedankengut seines Vaters stand Paul Drexler dabei durchaus kritisch gegenüber; zu viel Leid hatte die Ideologie, der sich seine Familie verschrieben hatte, über sie gebracht. Die Werte jenseits von Antisemitismus und Rassenhass, die dem kleinen Paul während
Weitere Kostenlose Bücher