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Bis in den Tod hinein

Bis in den Tod hinein

Titel: Bis in den Tod hinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Kliesch
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seiner Kindheit vermittelt worden waren, erschienen ihm aber durchaus erhaltenswert.
    Das Weinen eines Kindes ist ein Zeichen von Schwäche. Ihm ist nicht nachzugeben. Nur die Starken werden überleben.
    » Ab heute bilden wir beide eine Einheit«, hatte Paul seinem Sohn am Abend nach Karins Beerdigung erklärt.
    Er hatte sich zu Anselm ans Bett gesetzt und ihn ermahnt, sehr genau zuzuhören, denn er habe ihm etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen.
    » Mama ist jetzt im Himmel, und wenn du später auch in den Himmel kommen möchtest, dann musst du immer brav sein und deinem Vater gehorchen. Es wird Regeln geben, und diese Regeln wirst du befolgen. Ich kenne das Leben und die Welt da draußen besser als du, darum kann ich dich vor dem Unheil beschützen. Aber nur, wenn du immer genau das tust, was ich dir sage.«
    » Wo ist Mama denn?«, hatte der kleine Anselm daraufhin gefragt, der von Begriffen wie Tod und Himmel keine Vorstellung hatte.
    Paul Drexler sah sich außerstande, seinem Sohn zu erklären, aus welchem Grund er seine Mutter niemals würde wiedersehen können. Er überlegte daher, welche Antwort sein eigener Vater ihm wohl auf eine solche Frage gegeben hätte, und erwiderte nach kurzem Bedenken: » Kinder, die zu viele Fragen stellen, holt der schwarze Mann.«
    » Bitte, lass mich raus!«, schrie Anselm verzweifelt in seiner Kiste, während immer mehr Erde in die Grube fiel. » Ich will auch gehorchen, ich verspreche es dir!«
    Paul Drexler hatte zweifellos nicht wirklich vor, seinen Sohn im Garten zu vergraben. Umso wichtiger war es ihm daher, den Jungen in dem Glauben zu belassen, dass er tatsächlich dazu imstande wäre. Es war für Paul nichts Verwerfliches an der Vorstellung, dass man Gehorsam durch Angst erzeugen konnte. Im Gegenteil, er selbst hatte diese Form der Erziehung ebenso erfahren wie vor ihm bereits sein Vater.
    Ein kleiner Schelm bist du. Weißt du, was ich tu?
    Ich steck dich in den Hafersack und bind dich oben zu.
    Und wenn du dann noch schreist: » Ach, bitte mach doch auf!«,
    dann bind ich dich noch fester zu und setz mich obendrauf.
    » Sag die Regeln auf!«, schrie Drexler gebieterisch, während er dabei nicht aufhörte zu schaufeln. » Die Regeln!«
    Es war kurz nach Anselms Einschulung gewesen, als Paul Drexler sich entschlossen hatte, die Erziehung seines Sohnes durch klare, unmissverständliche Grundsätze zu vereinfachen. Durch etwas Verbindliches, das sich niemals einer Relativierung würde unterwerfen müssen. Wann immer sein Sohn an einen Scheideweg käme, an dem es gelten würde, eine wichtige Entscheidung zu treffen, sollten ihm diese Regeln klare Antworten bieten. Antworten, die niemals, auch nicht in noch so vielen Jahren, angreifbar sein würden. Anders, als es die Regeln gewesen waren, nach denen sich sein Vater Karl-Wilhelm gerichtet hatte. Im einen Moment hatten ihn diese zu einem angesehenen Mann, im nächsten bereits zum Verbrecher gemacht.
    Paul Drexler hatte an einem besonders schönen Oktoberabend auf der Terrasse seines Hauses gesessen und darüber nachgedacht, wie er die Erfahrungen, die ihn in seinem Leben geprägt hatten, in einfache, alles umfassende Lehrsätze zusammenfassen konnte. Immer wieder hatte er seine Gedanken niedergeschrieben, ihren Kern zu erfassen versucht, sie vereinfacht– und wieder verworfen. Waren manche Regeln schnell verfasst, bedurfte es bei anderen präziser Abstraktion. Um Wiederholungen zu vermeiden oder, was noch schlimmer gewesen wäre, Ermessensspielräume zu schaffen. Doch schließlich war Drexler davon überzeugt, die Essenz seiner Vorstellung von einem redlichen Menschen in klare, unmissverständliche Gesetze untergliedert zu haben.
    » Hier, mein Sohn«, hatte er zu Anselm gesagt, nachdem dieser wie an jedem Abend pünktlich und ohne zu murren ins Bett gegangen war. » Diese Regeln werden dir ab heute dabei helfen, ein Mensch zu werden, auf den unsere Gesellschaft stolz sein kann. Sie werden dich leiten und beschützen, auch über meinen Tod hinaus. Diese Regeln darfst du niemals vergessen oder missachten. Niemals!«
    Dann hatte Drexler den bereitgelegten Hammer ergriffen und eine Tafel an die Wand über Anselms Bett genagelt, auf der nachzulesen war, was fortan gelten sollte wie ein ehernes Gesetz.
    Später, nachdem Anselm eingeschlafen war, hatte Paul noch einmal nach seinem Jungen gesehen. Er hatte ihn nur zufrieden betrachtet und war schließlich zurück ins Wohnzimmer gegangen. In dem unerschütterlichen Wissen darum,

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