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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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gibt kaum noch einen Moment, in dem ich nicht an die Arbeit denke. Versuche ich, mit meinem Sohn zu spielen, bin ich körperlich bei ihm, meine Gedanken sind jedoch im Büro. Nach der Trennung von meiner Frau vor drei Jahren war ich beim Therapeuten, um meine Schuldgefühle für die gescheiterte Ehe in den Griff zu bekommen. Er hat mir gesagt: «Alle Ängste, die Sie als Vater haben, sind für Ihr Kind sichtbar – egal, ob Sie sie offen zeigen oder sie zu unterdrücken versuchen.» Hat er recht, bekommt mein Sohn viel mehr von mir mit, als mir lieb ist. Er ist gerade sechs geworden. Wir sehen uns nur am Wochenende, ab und an auch einen Abend in der Woche. Aber das wird immer mühsamer für mich. Auf den letzten Drücker hole ich ihn ab, wir essen Abendbrot, dann muss er ins Bett. Dass ich voll unter Strom stehe, ein paar Minuten vorher hektisch die Redaktion verlassen habe, im Kopf drei Telefonate und einen Haufen Mails, die ich am Abend noch führen und bearbeiten muss, kann ihm nicht entgehen. Ich bin gereizt, versuche, es zu unterdrücken. Dass er vermutlich längst spürt, wie das schlechte Gewissen auf mir lastet, versuche ich auszublenden. Ich gebe mir Mühe, Samy gegenüber entspannt, interessiert, ihm zugewandt zu wirken. Oft bin ich nichts davon. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich zerspringen. Da ist so viel Arbeit drin, dass es mir unglaublich schwerfällt, mich auf mein Kind zu konzentrieren. Ich liebe meinen Sohn, und ich schäme mich dafür, abwesend zu sein. Zeitlich, gedanklich und manchmal auch emotional. Was denkt Samy über mich? Hält er mich für einen guten Vater? Tut es ihm weh, dass ich so selten präsent bin in seinem Leben? Ihn zu fragen, traue ich mich nicht.
    Auch in meiner ganz, ganz knappen Freizeit bin ich selten bei der Sache. Gehe ich ins Kino, kann ich über den Film hinterher nichts sagen. Mit Leuten, die nicht Kollegen sind, treffe ich mich so gut wie gar nicht mehr. Ich habe an Themen, die nicht mit der Zeitung zu tun haben, kaum mehr Interesse. Als meine mittlerweile geschiedene Frau vor drei Jahren auszog, dauerte es nicht lange, bis ich mit einer Kollegin zusammenkam. Ich konnte – oder vielmehr: ich wollte nicht die Zeit und die Kraft für eine feste Beziehung aufbringen, aber ich konnte auch nicht allein sein. Irgendwie hatte es mich auch beruhigt, dass ich mich noch verlieben konnte. Ich bin ein Workaholic mit der Fähigkeit zu Gefühlen abseits des Jobs! Eine Zeitlang war ich mir dessen nicht mehr so sicher gewesen. Nun kriselt meine neue Beziehung aber schon wieder. Vor allem deshalb, weil ich ständig unter Strom stehe. Ich neide meiner Freundin die Freiheit, sich außerhalb der Arbeit lockermachen zu können. Die Leichtigkeit fehlt mir. Ich bin immer angespannt.
    Als ich mich vor zwei Tagen abends auf dem Herrenklo für eine Veranstaltung in der Handelskammer frisch machte, bei der ich Firmenchefs etwas über die Entstehung von Schlagzeilen erzählen sollte, blickte ich in den Spiegel und erschrak. So dunkel hatte ich meine Augenringe noch nie gesehen. Ich erinnere nicht, das Fältchen-Delta rechts und links der Augen zuvor schon mal wahrgenommen zu haben. Die Haut an diesen Stellen schimmert gelbgrünlich, fast wie Veilchen. Die Spuren der letzten Jahre.
    Ich spüre die Last, und sie zeigt sich immer deutlicher. Ich wollte diesen Job und will ihn noch immer. Er gibt mir so viel Bestätigung, dass ich ihn nicht hinschmeißen würde.
    Jetzt, es ist Freitagabend, sitze ich nach Redaktionsschluss in meinem Big-Boss-Büro und frage mich, ob irgendwann jemand merkt, dass ich vielleicht gar nicht kann, was ich können soll: Chef sein. Ich bin fest davon überzeugt, früher oder später aufzufliegen. Es kommt jemand, der es zu entscheiden hat, und sagt: «Herr Onken, Sie sind ab sofort kein Chef mehr! Sie tun so, als ob, aber Sie haben gar nicht das Zeug dazu.» Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde. Wahrscheinlich wäre ich erst betroffen und dann erleichtert. Widersprechen würde ich nicht. Nicht, weil mir keine Argumente zur Verteidigung einfielen, sondern weil ich die Verantwortung los wäre. Ich würde wieder als Reporter arbeiten und mehr Zeit haben zu leben. Ich würde weniger Geld verdienen, aber früher kam ich ja auch klar. Früher, das ist nur drei, vier Jahre her. Da hatte ich noch genügend Zeit, zu Hause Streit anzuzetteln und meine Ehe in den Sand zu setzen.
    Wie lange es wohl noch dauern wird, bis mich jemand enttarnt? Als einen, der gar nicht

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