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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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fünf Prozent aus dem zusammengestauchten Redaktionsetat einsparen soll, dass wir bald eine Sonntagsausgabe herausbringen, dafür aber keine neuen Leute bekommen, dass drei, vier Bremsklötze Stellen blockieren, die ich sofort mit jeweils zwei Volontären besetzen könnte. Ich bin nicht gut darin, mit dem Druck der Verantwortung für die Lösung der Probleme locker umzugehen. Ich spüre den Druck und werde ihn nicht los, egal, wo ich bin und was ich gerade mache.
    Ich wäre gern jemand, über den alle sagen, er mache einen guten Job. Als freundlich, cool und lässig möchte ich gelten. Als jemand, der seine Mitarbeiter versteht, sich nicht über sie erhebt, einer, mit dem man reden kann und der einen motiviert. Dass jemand von seinem Chef wegen dessen tollen Ideen oder kreativen Projekten schwärmt, habe ich noch nie gehört. Chefs sind beliebt, wenn sie fördern, fordern, nicht aus der Haut fahren und rücksichtsvoll mit ihren Leuten umgehen. Das Ideal. So wäre ich gern. Nach dem Gespräch mit dem alten Hasen ist mir klar, wie weit ich davon entfernt bin. Die Einsicht ist ein Schlag ins Kontor. Mehr als ich dachte, bin ich abhängig von der Meinung meiner Mitarbeiter. Sehnsüchtig nach Anerkennung. Das zieht sich durch mein Leben. Was andere von mir dachten und über mich sagten, ging mir nah. Kritik konnte ich nie gut ertragen. Zu gern würde ich sie wie einen Fußball abprallen lassen, der gegen ein Garagentor knallt. Doch sie trifft mich wuchtig. Auch von Leuten, die ich selbst nicht besonders schätze, mit denen die Chemie nicht stimmt. Nur bei ganz wenigen ist es mir egal, was sie von mir halten. Manchmal sage ich: «Nicht jeder Mitarbeiter soll nach Feierabend mit mir Bier trinken wollen.» Das ist die Realitätsdenke. Tatsächlich hätte ich nichts dagegen, würden alle meine Nähe suchen, die mir wichtig sind. Das ist der Liebt-mich-Wunsch. Ablehnung fürchte ich. Die Furcht stresst mich.
    Auch aus Kindheits- und Jugendtagen erinnere ich jede Menge Stress-Situationen: erster Tag in einer neuen Klasse, Aufsagen von Gedichten, Vorrechnen an der Tafel, Notenabnahme am Reck, Angabe beim Volleyball, nackt ausziehen beim Schulschwimmen, Vokabeltest in Latein, Theaterspielen beim Projekttag, Bezahlen vor einer langen Schlange an der Supermarktkasse, heimlich rauchen auf dem Schulhof, erster Engtanz auf einer Fete, Pornohefthandel unterm Schultisch während des Geschichtsunterrichts, erstes Petting, erster Joint.
    Solange ich mich erinnern kann, reagiere ich in stressigen Situationen schon immer so: Mir wird heiß, das Blut rauscht mir in Kopf und Brust. Kommt es besonders heftig, werden Arme und Beine kalt, mir wird schummrig, der Atem verflacht, mein Herz pumpt. Trotz der körperlichen Symptome bin ich gut darin, meinen Stress zu kaschieren. In den letzten Monaten haben mir mehrere Kollegen gesagt: «Du wirkst so sicher, so locker, als würde dir die ganze Arbeit gar nichts anhaben.» Mich hat das überrascht. Einmal habe ich geantwortet: «Das ist Blödsinn, ich habe oft das Gefühl, ich müsste jeden Moment explodieren.»
    Du reflektierst zu viel! Reflexion ist Gift für meine Konzentration. Schon morgens in der Konferenz bin ich mit den Gedanken oft abwesend. Trägt ein Ressortleiter lattenweise unspektakuläre Themenvorschläge vor, kann ich kaum folgen. Ich habe mir angewöhnt, in den ersten Sekunden zu entscheiden, ob die Information für mich relevant ist oder nicht. Würde ich mir alles mit derselben Aufmerksamkeit anhören, wäre mein Kopf mittags knallvoll, und ich hätte das Gefühl, er müsse platzen.
    Gut sind die Tage, an denen was Außergewöhnliches passiert. Große Nachrichten. Ein Unglück, ein Rücktritt, eine Regierungskrise, eine Wahl, Sieg bei einer WM, starke Exklusiv-Geschichten. Die ganze Redaktion ist dann unter Anspannung. Es geht um Sonderseiten, Schnelligkeit, Vorsprung an Information und Bildern. Der Output ist höher als an normalen Tagen, das Tagesgeschäft wird zur Nebensache, und alle sind heiß darauf, einen super Job zu machen. Das gelingt uns oft sehr gut. Wir sind ein kleines Team, das in solchen Ausnahmesituationen zusammenrückt und alles gibt. Ich liebe diese Tage. Keine Zeit für Zweifel und abschweifende Gedanken. Vollgas bei dem, was ich kann: Zeitung machen. Themen bestimmen, Zuständigkeiten verteilen, Impulse geben, Mitarbeiter motivieren, Recherchen koordinieren, Layouts vorschlagen, Texte redigieren, Schlagzeilen formulieren. Währenddessen sind alle Zweifel weg.

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