Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
werden gedacht haben, okay, der hat gerade viel um die Ohren, das wird sich wieder ändern. Es änderte sich aber nicht.
Ich stelle meinen Beruf über alles andere und sage eher eine private Verabredung ab, als im Büro früher zu gehen. Das war beim ersten Mal keine bewusste Entscheidung. Danach auch nie. Es passierte einfach so.
Ich stürzte mich in die Arbeit, und auch außerhalb der Redaktion interessierte mich vor allem, was drinnen geschah. Ein Mikrokosmos, der Mittelpunkt meines Lebens geworden ist.
Komisch, dass ich für diese Erkenntnis so lange brauchte.
Bestimmt gab es schon früh Anzeichen, die mich hätten nachdenklich stimmen sollen. Das plötzliche Desinteresse an meinen wichtigsten Freundschaften. Der Drang, immer und überall über die Zeitung zu reden. Das unterdrückte Bedürfnis nach alten Gewohnheiten wie Squashen und Saunagesprächen mit Karsten. Ich habe die Anzeichen nicht hören, sehen, fühlen wollen. Natürlich merkte ich, wie der Job mein Leben mehr und mehr dominierte. Aber ich tat und tue nichts dagegen. Ich gab und gebe immer Gas. Volle Pulle. Nur vorwärts. Ohne Pause.
Soll ich die Reißleine ziehen, wieder als Reporter arbeiten?! Nach dem Abend mit Carsten ist der Gedanke einige Tage verschwunden. Jetzt ist er wieder da. Auslöser ist ein Projekt, das Nerven kostet – und dessen negativen Einfluss auf die Stimmung der Redaktion ich unterschätzt habe.
Im Sommer hat uns die Verlagsleitung zur Zusammenarbeit mit dem Berliner Kurier verdonnert. Die beiden Zeitungen gehören seit ein paar Monaten dem britischen Investor David Montgomery, der «Heuschrecke». Ein zierliches Kerlchen, verschlagen und kompromisslos. Die Heuschrecke giert nach schnellen Millionen und will fressen, fressen, fressen. Sie hat keine Ahnung vom Journalismus, vom Zeitungmachen. Ihr verlegerisches Handeln verfolgt nur ein Ziel: die Rendite zu steigern. Was Geld kostet, wird in Frage gestellt oder gleich gestrichen. Qualität kostet Geld, und deshalb steht sie auf der Kippe. Das sehen alle, aber kaum einer prangert es an. Außer dem Betriebsrat und ein paar Mutigen in der Redaktion, die dafür Ärger bekommen sollen. So jedenfalls sähen es die Berliner Manager gern. Für den Ärger bin ich als Chefredakteur zuständig. Ich will die Mutigen aber nicht bestrafen. Sie sind aufmüpfig, dramatisieren die Lage ein bisschen zu heftig, denn niemand muss Angst vor Kündigung haben. Frei werdende Stellen werden nicht wieder besetzt, das ist zunächst mal alles. Und doch ist es richtig, die Entwicklung zu kritisieren, vor härteren Einschnitten zu warnen.
Ich sage den Managern: «Ein guter Journalist soll eine gute Zeitung machen und nicht gut sparen können.» Die Antwort ist ein Lächeln. Darin ist deutlich zu lesen: Tja, Herr Onken, darüber sollten Sie vielleicht noch mal nachdenken.
Diejenigen im Verlag, die von mir Durchgreifen gegen Störenfriede erwarten, wissen so gut wie ich, dass der Weg Montgomerys Murks ist. Aber auch sie wollen fressen.
Die Zusammenarbeit mit dem Berliner Kurier reibt uns alle auf. Die Chefredaktion, die Ressortleiter, die Redakteure. Wir sollen Synergien entwickeln. Im Redaktionsalltag kann das nur so gehen: Die eine Zeitung produziert bei überregionalen Themen Artikel, Fotos, Seiten für die andere mit. Das macht in der Theorie für die Zeitung, die von der anderen beliefert wird, weniger Arbeit und spart mittelfristig Personal. Für die Heuschrecke und die Verlagsmanager eine simple Rechnung. Die meisten von ihnen haben keine journalistische Erfahrung und schon gleich gar keine journalistische Leidenschaft. Sie können oder wollen die Schwierigkeiten, die solche erzwungenen Synergien verursachen, nicht sehen. Eine Zeitung, vor allem ein Boulevardblatt, ist Ergebnis eines kreativen, emotionalen Prozesses. Deshalb gibt es auch keine Maschine, die anstelle der Redaktion Themen und Fotos auswählt, ihnen eine Struktur im Blatt gibt, Texte schreibt und die fertigen Seiten in die Druckerei schickt. Artikel zeichnen sich durch individuelle Schreibe, Kommentare durch charakteristische Positionen aus. Die Hälfte der einen Zeitung mit der Hälfte der anderen per Mausklick zu mischen, kann nicht funktionieren. Das kann nur beide Blätter schlechter machen.
Für meine Redaktion ist die Kooperation ein traumatisches Erlebnis. Ein ganzes Ressort wird nahezu aufgelöst. Es wird weiterhin niemandem gekündigt, aber viele gehen davon aus, dass es auch dazu noch kommen wird. Bei einigen fließen
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