Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Tränen, sie kritisieren die Qualität der aus Berlin gelieferten Texte. Ihre Trauer schlägt in Wut um, die Stimmung ist gereizt.
Ich sitze zwischen Baum und Borke. Da ist zum einen meine Redaktion, die in vielen Punkten mit ihrer Kritik an den Umstrukturierungen recht hat. Zum anderen sind da die gefräßige Heuschrecke und die Gierschlünder im Verlag, die mir zu verstehen geben: Wer nicht mitspielt, ist raus. Aufgrund meiner Position stehe ich auf der Seite der Gierschlünder. Aufgrund meiner Überzeugung stehe ich auf der Seite der Mitarbeiter. In meiner Redaktion wissen das die meisten, sie spüren meine Zerrissenheit – unterm Strich bleibe ich jedoch ihr Chef, also ein potenzieller Gegner ihrer Interessen. Der Betriebsratschef, mit dem ich mich gut arrangiert habe, weil wir einander schätzen, droht den Managern mit Streik. Die Mehrheit der Mitarbeiter sympathisiert mit den Plänen.
Streik darf es auf keinen Fall geben. Das würde so aussehen, als hätte ich die Lage nicht mehr im Griff, als tanzten mir die eigenen Leute auf der Nase herum.
Ich bekomme mit, dass sich die Redakteure mit dem Betriebsrat zu konspirativen Besprechungen treffen. Ich bleibe außen vor, sitze nach Redaktionsschluss in meinem Büro und komme mir wieder ausgeschlossen vor. Das kränkt mich. Ich möchte mit jemandem über die drohende Eskalation und meine Gefühle reden.
Welchen Freund, der nicht Kollege ist, könnte ich anrufen? Karsten. Mit ihm habe ich vor zwei Jahren ein paarmal über meinen Aufstieg, den zusätzlichen Druck, die Kehrseite der Verantwortung gesprochen. Er wäre der Richtige, ist vor einiger Zeit Bereichsleiter seiner Firma geworden und hat seitdem selbst viel um die Ohren. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich kaum noch gemeldet, ihm auf seine immer seltener gewordenen Squash-Anfragen bis auf ein einziges Mal in den vergangenen zwölf Monaten einen Korb gegeben und meine versprochenen Rückrufe immer wieder verschoben habe. Für wie arrogant und abgehoben muss er mich halten? Wäre er ehrlich, würde er mir vielleicht sagen: Du hast viel erreicht, du hast aber auch viel verloren. Unsere Freundschaft zum Beispiel.
Habe ich mich vor zwei Jahren einlullen lassen von dem schmeichelnden Angebot zum Aufstieg? Ich bin nicht frei von Eitelkeit. Das Gefühl der hierarchischen Aufwertung gefiel mir, die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Die wichtigen Leute beachten mich seitdem mehr als zuvor, sie unterhalten sich länger als früher mit mir. Mehr Männer zollen mir ihren Respekt, mehr Frauen interessieren sich für mich, ich verdiene mehr Geld und habe mehr Einfluss. Sind das die Opfer wert, die ich erbringe? Die Antwort kenne ich nicht.
Klar, ich kann mit Leuten wie Carsten trinken gehen und mich über die Schattenseiten der Macht auskotzen. Für ein paar Stunden schweißt das zusammen. Ich fühle WIR, bin nicht ALLEIN, das hilft. Einen Abend und eine Nacht.
Doch am nächsten Morgen sitze ich wieder ALLEIN in meinem Büro mit dem Druck, in neun Stunden eine Zeitung füllen zu müssen. Mit der Nervosität wegen fehlender Schlagzeilen, mit personellen Ausfällen, schwelenden Konflikten mit den Berlinern, mit dem drohenden Streik, der Erwartung der Manager, der Erwartung der Redaktion, der Gier der Heuschrecke.
Und mit der Einsamkeit.
Bin ich dem Job einfach nicht gewachsen? Kann ich mir erlauben, mit jemandem über meine Einsamkeit zu sprechen? Schon in meiner Ausbildung habe ich Situationen gehasst, in denen ich nicht weiterwusste. Ich wollte nicht fragen, schon damals alles können. Vielleicht kann ich mit demjenigen reden, der mich auf den Posten gehoben oder mich dafür empfohlen hat. Zum Beispiel mit meinem ehemaligen Chefredakteur, der im Verlag geblieben ist, auf Wunsch der Heuschrecke jetzt aber in der Berliner Geschäftsführung arbeitet. Würde er mich verstehen? Er ist ein ganz anderer Mensch als ich. Weniger sensibel und emotional. Früher, als er noch bei uns war, hatte ich oft den Eindruck, der Stress perle an ihm ab wie Regentropfen von frisch poliertem Autolack. Er wirkte auch in schwierigen Situationen so unbekümmert, dass ich ihn darum beneidete. Vermutlich würde er meine Gedanken gar nicht nachvollziehen können. Vielleicht ist es auch anders. Ich sollte mich bei ihm melden. Ich mache es nicht. Das wäre doch seltsam, wenn ich, der den Leuten hier nun sagen soll, wo es langgeht, selbst um Hilfe bitte.
Das sähe doch so aus, als wäre ich überfordert. Als wüsste ich
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