Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Mythos der Zeitung haben mich beeindruckt.
Abgesehen von ein paar Ausgaben im Urlaub hatte ich BILD selbst erst regelmäßig zu lesen begonnen, als ich 1996 als freier Mitarbeiter beim Pinneberger Tageblatt angetreten war. Mir imponierte es, wie Texte verkürzt, verdichtet wurden, was ich auch an den Artikeln feststellte, die ich an die Hamburger Umlandredaktion weiterverkauft hatte. Ihr Wahrheitsgehalt war nicht gesunken. Damit hatte ich nicht gerechnet. Von da an wuchs mein Wunsch, da eines Tages mitzumischen. Die Vorstellung, bei Deutschlands größter Zeitung anzuheuern, kickte mich.
Nicht jedem Skeptiker versuchte ich, meine Sichtweise auf BILD zu erklären. Auch künftig werde ich einige nicht überzeugen oder auch nur zu einer differenzierteren Betrachtung bewegen können. Manchmal denke ich doch, ich müsse alle bekehren. Von dieser Vorstellung muss ich mich endgültig verabschieden. Es ist Utopie.
Kurz vor Weihnachten stimmte die Morgenpost meiner Kündigung endlich zu. Vielleicht hatten die Verlagsmanager eingesehen, dass sie mit ihrer Strategie vor Gericht scheitern würden. Vor allem aber hatte sich nach Absagen einer ganzen Reihe favorisierter Kandidaten doch noch ein Nachfolger für mich gefunden. Das entspannte die Situation.
Am 1. Februar geht es los. Vorerst werde ich die Hamburger BILD -Redaktion mit dem amtierenden Chef leiten, der spätestens in einem Jahr in die Bundesredaktion wechseln will. Diese zieht in drei Monaten nach Berlin, deshalb sollen wir uns als künftige alleinige Statthalter des Blatts in Hamburg positionieren.
Die Arbeit ähnelt der bei der Morgenpost und ist doch ganz anders. Bislang war ich in mittelständischen Unternehmen beschäftigt, jetzt bin ich Teil eines Mega-Konzerns. Hierarchien kenne ich kaum, auf einmal spielt es eine große Rolle, wer wem etwas sagt. Ruft der Chef an, ist das wichtig. Ruft der Chef-Chef an, ist das wichtig-wichtig. Beauftragt Ober Unter, etwas zu tun, versteht Unter das als Anweisung und gehorcht. Diskussionen zwischen Ober und Unter sind die große Ausnahme, Widerspruch gibt es fast gar nicht. Ich bin es gewohnt, Ideen kurzfristig umzusetzen. Jetzt muss ich lernen, für Ideen Zustimmung von allen möglichen Seiten einzuwerben. Jeder will mitreden, alle wollen gefragt werden. Je mehr Facetten ein Thema hat, je aufwendiger ist der Vorlauf, bis es grünes Licht gibt.
Bei der Morgenpost habe ich nach dem WM-Endspiel 2006 zwischen Italien und Frankreich zwei Titelseiten gedruckt. Eine vorn für den Sieger, eine hinten für den Verlierer. Das war ungewöhnlich, aber überhaupt kein Problem. Bei BILD wäre es undenkbar, dass ich so etwas allein entscheide. Wollte ein Konzertveranstalter die Morgenpost als Medienpartner gewinnen, hat er meine Mitarbeiter aus der Kulturredaktion angerufen und das abgesprochen. Bei BILD wird aus so einer Anfrage ein Vorgang, an dem mindestens drei Abteilungen zu beteiligen sind. Bei der Morgenpost war ich froh, wenn ich mit jemandem über die Formulierung der Schlagzeile mal länger als einen Augenblick reden konnte, bei BILD ist die Zeile ein Heiligtum. Für meine Hamburg-Ausgabe darf ich sie nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Chefredaktion verändern, sollte ich ein Thema aus der Stadt für geeigneter erachten als eine überregionale Geschichte.
Ich muss mich rundherum umstellen, auch im Positiven, verwalte ich doch nun nicht mehr den Notstand, sondern kann aus dem Vollen schöpfen – personell und materiell. Das ist phantastisch, ich komme mir vor wie im Paradies. Aber es bedeutet auch, dass es keine Ausreden gibt, wenn etwas in die Hose geht. Bei der Morgenpost konnten wir im Notfall immer auf die schlechte Besetzung oder die veraltete Computertechnik verweisen. Bei BILD geht alles. Ich muss es nur richtig steuern.
Der Start verläuft so, wie ich ihn mir erhofft hatte. Ich werde herzlich empfangen, alle Mitarbeiter sind motiviert, ich kann mich einbringen, wir machen eine super Zeitung. Zwar vermisse ich die familiäre Atmosphäre von früher, meinen Seitenwechsel aber bereue ich nicht. BILD eröffnet mir einen neuen Horizont. Hier kann ich noch viel lernen. Bei der Morgenpost war der Takt flott, hier ist er rasant. Der Ton ist um einige Dezibel lauter, hier lärmt die Arbeit. Das gefällt mir, das habe ich gesucht.
Mit Chefredakteur Kai Diekmann verstehe ich mich von der ersten Begegnung an gut. Nichts von dem Gerede über ihn, das ich mitbekommen hatte, bestätigte sich in den Gesprächen vor der
Weitere Kostenlose Bücher