Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Es muss Sommer gewesen sein, denn ich trug ein T-Shirt. Wir schrieben ein Diktat. Unser Klassenlehrer, Herr Kern, ein kauziger Typ Ende fünfzig mit fusseligem, dunkelgrauem Ziegenbart, dunkelgrauer Halbglatze und gekrümmtem Buckel, schlurfte zwischen zwei Tischreihen von vorn nach hinten und diktierte. Neben mir blieb er stehen. Ich spürte, dass das kein Zufall war. Er starrte auf meinen rechten Arm und fragte, was das da sei. Er meinte mein Abzieh-Tattoo aus einem Bazooka-Kaugummi, das ich mir aufs Handgelenk geklebt hatte. Ich war wie versteinert.
«So lassen dich deine Eltern in die Schule gehen? Musst du dir zu Hause nicht die Hände waschen?»
Ich schämte mich, wie ich mich noch nie geschämt hatte. Ich wollte mich nicht schämen, das Tattoo war harmlos, fast alle Kinder hatten so was schon mal auf ihrem Arm. Nur mit ganz großer Mühe konnte ich die Tränen unterdrücken. Es wären Wuttränen gewesen. Ich hatte in diesem Moment, ich war neun oder zehn Jahre alt, das erste Mal in meinem Leben den Drang, mich an einem Menschen zu rächen.
Nach der letzten Stunde bin ich sehr schnell nach Hause gegangen und habe meiner Mutter erzählt, was passiert war. Diesmal ließ ich den Tränen freien Lauf. Sie war sehr empört über den Lehrer, und die besten Freunde meiner Eltern, die gerade aus Hamburg zu Besuch waren, waren es auch. Ich habe meine Mutter gebeten, sich diesen Kern vorzuknöpfen und ihm die Leviten zu lesen. Sie hat sich mit ihren Freunden und am Abend mit meinem Vater besprochen und dann: nichts gemacht. Wahrscheinlich, um mich vor Repressalien zu schützen. Das habe ich damals nicht verstanden und war sehr enttäuscht.
Jahrelang hing mir dieses Erlebnis nach, noch heute steigt in mir Wut hoch, wenn ich an diesen Lehrer denke. Er hat unsere ganze Klasse tyrannisiert, mehrere Kinder traumatisiert. Eine Mitschülerin musste beim Verkehrsunterricht im Klassenzimmer mal dringend aufs Klo. Kern hat sie nicht gehen lassen. Wir hatten alle Tische und Stühle beiseitegeräumt, Kern hatte mit Kreide Straßen und Zebrastreifen auf den Boden gemalt. Wir Schüler waren Autos, Fahrräder, Fußgänger. Das Mädchen, das so dringend musste, war eine Mutter mit Kinderwagen. Es stand da mit verschränkten Beinen und pinkelte sich in die Hose. Das Pipi lief die Beine runter, über die Sandalen in die Socken und dann auf den Kreide-Zebrastreifen. Kern hat sich fürchterlich aufgeregt und die weinende Schülerin vor der ganzen Klasse alles aufwischen lassen.
Zehn Jahre später habe ich mit einem Freund Kerns Adresse ausfindig gemacht. Wir sind abends in der Dämmerung zu seinem Haus gefahren, die Garage stand offen. Wir wollten ein bisschen randalieren, aber da stand nichts, was wir hätten kaputt machen können. Nicht einmal ein Fahrrad, aus dessen Reifen wir die Luft hätten rauslassen können. Wir haben in seine Garage gepinkelt und sind nach Hause gefahren.
Die Bloßstellung durch meinen Klassenlehrer vergesse ich nicht. Er war eine Autorität, unberechenbar und saß aus Sicht meiner Eltern am längeren Hebel. Obwohl sein Verhalten völlig inakzeptabel war, kam er damit durch.
Heute ist es so: Je mächtiger derjenige ist, der mir gegenübersteht, desto unwohler fühle ich mich. Erst recht, wenn derjenige sich dominant, anmaßend, unsympathisch verhält. Wenn er mich an Kern erinnert.
Ertappbar fühle ich mich, wenn ich mir meiner Leistung, meiner Position nicht sicher bin und glaube, keine überzeugende Antwort auf drohende kritische Fragen zu haben.
So wie jetzt, wenn ich morgens im Büro sitze und den Anruf aus Berlin fürchte. Mein mächtiger Chef könnte einen Patzer in der Zeitung entdeckt haben, mich nach der Ursache fragen, und ich könnte keine plausible Erklärung parat haben. Einen Fehler zu machen und dabei erwischt zu werden, wird für mich schnell zum Auslöser, meine Kompetenz in Frage zu stellen. Ich will keine Fehler machen. Ich hasse das.
Es klingelt chefig, meine Sekretärin verbindet, und der Herausgeber bittet mich, mich mal mit dem Geschäftsführer eines Unternehmens zu treffen, den er am Vorabend kennengelernt hat und interessant findet. Harmloser geht es nicht. Ich atme durch, fühle mich wie freigesprochen. Spinnst du eigentlich? Niemand will dir was Böses. Kapier das endlich!
Meine Sekretärin kommt ins Zimmer und sagt, dass sich ein Redakteur und eine Layouterin krankgemeldet haben. Der Redakteur sollte heute ein Interview, das ich für die aktuelle Ausgabe eingeplant habe,
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