Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
verlässlich satt macht. Morgen dann aber wirklich. Aber auf den einen Tag kommt’s nun wirklich nicht mehr an.
Es sind nicht nur das Gewicht, der Haarausfall. Es sind nicht nur die Augenringe, die Pausbacken, das Doppelkinn. Mindestens genauso unangenehm ist mir die Strenge, die meine Mimik bestimmt. Eine andauernde Ernsthaftigkeit lässt meine Gesichtszüge hart wirken. Sie sehen alt aus, verausgabt, manchmal unglücklich. Auf vielen Fotos mag ich mich nicht. Manchmal erschrecke ich, wenn mir ein Fotograf eine Aufnahme mailt, die er bei einer Veranstaltung am Vorabend gemacht hat. Die Anspannung steht mir ins Gesicht geschrieben. Würde ich das Foto neben ein drei, vier Jahre altes legen, würde jeder Außenstehende glauben, dass zwischen den Bildern mindestens zehn Jahre liegen.
Stress macht hässlich.
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Samy
Mai 2009
Seitdem er auf der Welt ist, hat mein Sohn einen Vater, der sehr viel arbeitet. Als ich Chef wurde, war Samy keine fünf Jahre alt. Mit der Trennung von meiner Frau wurde ich Teilzeit-Papa. Nachdem alle anderen Modelle an meinen Arbeitszeiten gescheitert waren, sehen Samy und ich uns nur noch an den Wochenenden. Wir kennen keinen Alltag miteinander, kommen aus ganz verschiedenen Wochenabläufen – da braucht es jedes Mal eine Warmlaufphase, bis wir einander gefunden haben. Da ist es gut, ein oder zwei ganze Tage beieinanderzubleiben.
Andererseits habe ich nun keine Zeit mehr nur für mich: Job oder Kind. Eine Aufgabe habe ich immer. Beides verlangt Kraft, Kreativität, Konzentration. Beides ist Stress. Der berufliche viel mehr als der als Vater. Aber auch das ist Druck. Druck, meinem Anspruch, ein prima Papa zu sein, gerecht zu werden.
Bis auf zwei, drei Wochen Urlaub im Jahr hat mich Samy immer entbehren müssen. Die meiste Zeit in seinem neunjährigen Leben war ich nicht da, zwar telefonisch erreichbar, aber nicht wirklich greifbar. Am Telefon bin ich oft kurz angebunden. Nicht aus Desinteresse, sondern weil in der Redaktion gerade mal wieder Land unter herrscht. Ich schaffe es nicht, mir verlässliche Auszeiten für meinen Sohn zu organisieren. Alle paar Monate versuche ich, regelmäßige Telefonate einzuplanen. Alle paar Monate scheitere ich aufs Neue. In den frühen Abendstunden, wenn Samy dafür Zeit hat, bin ich mit der Redaktion in der ganz heißen Produktionsphase. Ich möchte am Telefon nicht gestresst wirken. Und dann ist es schon wieder zu spät. Wenn ich Redaktionsschluss habe, schläft mein Sohn.
Mit Samy geht es mir wie mit meinen Freunden. Die sehe ich manchmal drei, vier Wochen nicht. Meldet sich dann einer von ihnen leicht angesäuert bei mir, weil ich trotz einer lockeren Verabredung nichts mehr von mir habe hören lassen, wird mir erst klar, wie viel Zeit schon wieder vergangen ist. So in etwa ist das, wenn ich meinen Sohn zwischen den Wochenenden oft nur einmal spreche. Ich bringe ihn Sonntag zu seiner Mama und zack – ist schon wieder Donnerstag. Fast vier Tage Funkstille, und ich habe es kaum gemerkt. Ich rufe an, fühle mich schuldig, wir verabreden unser nächstes Treffen.
Trotz der Entbehrungen ist da eine große Vertrautheit, wenn wir uns sehen. Als er noch ein kleiner Junge war, brauchte Samy manchmal ein bis zwei Stunden, um sich immer wieder aufs Neue an unser Miteinander zu gewöhnen. Ich erinnere aber keine Situation, in der mein Sohn mich dringend gebraucht hätte und ich nicht da gewesen wäre. Er wusste, dass er sich jederzeit melden konnte. Und er wusste, dass ich den neuen Mann an der Seite meiner Ex-Frau von Beginn an mochte und respektierte. Samy hatte hier keinen Konflikt auszuhalten. Das wäre eine fürchterliche zusätzliche Belastung für ihn gewesen.
Die Begegnungen mit dem liebsten Menschen in meinem Leben fühlen sich an wie der Tropfen, der das Arbeitsstressfass zum Überlaufen bringen könnte. Die Organisation jede Woche erneut abzusprechen, ist mir lästig. Das nicht auch noch! Ich brauche auch mal Luft für mich. Nächste Woche! Nächste Woche ganz bestimmt!
Sehen wir uns, ist es wunderbar. Ich will, dass es gar nicht wieder aufhört. Lasse ich mich auf das Zusammensein mit meinem Sohn ein, kommen mir der Job, der Druck, die Last ganz weit weg vor. Warum lasse ich diese Oasen so selten zu? Vielleicht deshalb: Mit Samy bin ich so, wie ich war, bevor der Stress kam. Unangestrengt, locker, herzwarm. Bin ich in meiner Papawelt, fehlt mir die Job-Bühne nicht, die hohe Schlagzahl, der Dauerlauf der Entscheidungen, die
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