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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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Nähe zu den Wichtigen der Stadt. Das fühlt sich gut an. Das fühlt sich so gut an, dass ich am liebsten gar nicht mehr zurück möchte.
    Zurück muss ich aber. Oder?

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    Unter Strom
    Juli 2009
    «Bist du im Stress?»
    Ich sitze in meinem Büro und habe mich am Handy mit einem vertrauten «Na, Alter!?» gemeldet. Es ist mein Ex-Kollege S., das habe ich auf dem Display gesehen. Er hat einen freien Tag, hat an mich gedacht und würde mich gern abends treffen. Ich will mit ihm reden. Ich kann nicht mit ihm reden. Er merkt es, noch bevor er fragt. Er fühlt sich unerwünscht. Bereut er seinen Anruf schon? Ich würde ihm gern sagen, dass ich nichts lieber täte, als mich auszuklinken und ihn zu sehen. Ich erlaube mir die Ehrlichkeit nicht und bleibe kurz angebunden.
    «Mal gucken, ich habe einen Termin, so ’ne Häppchen-Veranstaltung, du weißt schon, vielleicht danach, spät.»
    «Ist okay, meld dich. Und stress dich nicht.»
    «Ümmhm.»
    Wir legen auf, ich ärgere mich über mich selbst. S. muss denken, für mich zähle nur der Job. Oft zählt ja tatsächlich nur der Job. Ich will das nicht, aber ich kann nicht anders. Besser: Ich weiß nicht, wie das geht – anders. Ich verbiete mir, darüber nachzudenken. Weiter.
    Mein linkes Bein. Es wippt, sehr schnell, die ganze Zeit schon. Mein Fuß steht auf den Zehen, die Ferse leicht angehoben. Mein Oberschenkel gibt den Takt. Hochrunterhochrunterhochrunter. Hundertmal die Minute, zweihundert? Ich mache das oft, ein Stresstick. Wie damals mein erster Chef Jens, beim Pinneberger Tageblatt , dessen Leben aus den Fugen geriet.
    Fast halb vier! So spät schon!
    Heute Morgen hatten wir einen sicheren Aufmacher für unsere erste Lokalseite, da kann nicht irgendeine Geschichte stehen, da muss die wichtigste Geschichte des Tages hin, am besten eine, die nur wir haben, was Exklusives. Diesmal ist es die über eine tote Schülerin aus gutem Hause. Seit einer Stunde wissen wir: Suizid. Stress in der Schule, Liebeskummer mit dem ersten Freund. Sie war vierzehn. Hammerschicksal. Gespenstisch. Das Mädchen lag tot auf dem Dachboden der Eltern. Erst war nicht klar, was passiert ist, aber inzwischen ist zu uns durchgesickert: kein Verbrechen, kein Unfall, keine Drogen. Die Schülerin hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.
    Über Selbstmorde berichten wir nicht, wenn es kein Prominenter ist. Nachahmungsgefahr. Seit keine Zeitung mehr über Selbstmörder in S- und U-Bahnhöfen schreibt, ist die Zahl der Fälle gesunken. In Österreich gab’s dazu vor zehn Jahren einen Pilotversuch. Die Auswirkungen waren schon in den ersten Wochen erkennbar. Viel weniger Lebensmüde sprangen auf die Gleise. Zeitungen in allen deutschen Großstädten folgten dem Beispiel. An den Zusammenhang kann man glauben oder nicht, Zurückhaltung ist allemal geboten. An das ungeschriebene Agreement mit den Verkehrsbetrieben hält sich jeder, der ein Weilchen im Geschäft ist.
    Damit ist uns aber die Wahnsinnsgeschichte weggebrochen, wir haben keinen Aufmacher mehr. Aus der Konferenz vom Vormittag erinnere ich keine brauchbare Alternative.
    Mehr als dreißig Reporter, und keiner hat eine große Story.
    Hitzewelle.
    Ich öffne einen zweiten Hemdknopf. Den obersten habe ich nie zu, den darunter spätestens mittags auf. Krawatte zu tragen, ist mir eine Qual. Ich vermeide es, wo es nur geht. Das gelingt mir so gut, dass ich bis heute eine Anleitung beim Binden brauche. Habe ich einen neuen Schlips gekauft, bindet ihn mir ein Kollege. Mit gelockertem Knoten hänge ich die Krawatte zu Hause in den Schrank.
    Ich brauche eine Idee. Fünf Jahre bin ich schon Blattmacher, noch immer löst ein geplatzter Aufmacher Panik in mir aus. Gerade gestern hatte ich doch noch eine Idee für Notfälle. Ich habe sie doch irgendwo aufgeschrieben. Ich krame nach den Notizen mit Stichworten für Themen. Dieses Chaos! Ich könnte es mir so viel leichter machen mit ein bisschen Ordnung. Mein Chaos ist die Pest. Ich erinnere Stichworte auf dem Blackberry (leider auf dem, der mit kaputtem Akku zu Hause liegt). Ich erinnere Stichworte in einem meiner Notizbücher (in dem neuen schwarzen?). Ich wühle es aus meiner Aktentasche, ich blättere.
    Nichts.
    Ich habe Zettel mit Themenvorschlägen aus Brainstormings mit der Redaktion in irgendeinem Papierstapel. Ich finde sie nicht. Erst vor zwei Tagen hatte ich doch mit Kathrin noch über zwei Ideen gesprochen. Wo habe ich die Notizen noch mal hingekritzelt? Auf eine dieser

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