Bis unter die Haut
und versucht an der Miene ihrer Französischlehrerin abzulesen, was sie von ihr wollen könnte. Ahnt sie, dass sie die nächste Stunde blaumachen will?
»Sie sind so schnell aus dem Raum gestürzt« – Ms Bensons Stimme klingt freundlich, aber ihr Gesichtsausdruck ist ernst –, »dass ich gar keine Gelegenheit hatte, Ihnen das hier zu geben.« Sie reicht ihr die Französischklausur, die sie vor einer Woche geschrieben haben.
Das ist alles?
Willow ist erleichtert, bis sie die Note sieht. Das kann doch nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein. Ausgerechnet jetzt, wo sie endlich eine Möglichkeit gefunden hat, auch einmal etwas für David zu tun …
»Sie müssen sich keine allzu großen Sorgen deswegen machen. Das Schuljahr hat gerade erst angefangen, es bleibt Ihnen also noch genügend Zeit, sich zu verbessern. Wenn ein Schüler nicht besteht, muss die Arbeit allerdings von den …« Ms Benson beendet den Satz nicht, und es ist nicht zu übersehen, dass sie sich sogar noch unbehaglicher fühlt als Willow. »Also … sie muss von einem Erziehungsberechtigten unterschrieben werden«, fährt sie schließlich fort. »Und noch einmal: Machen Sie sich bitte keine Sorgen, dass sich das auf Ihre Note im Zeugnis auswirken könnte. Es gibt etliche Möglichkeiten, diese eine schlechte Note auszugleichen. Wenn Sie mir die Arbeit also bitte morgen unterschrieben zurückbringen könnten? Spätestens Freitag, in Ordnung?«
»Natürlich«, sagt Willow, ohne den Blick von der roten Sechs wenden zu können.
Das Schlimmste ist nicht, dass sie eine Arbeit in den Sand gesetzt hat – obwohl sie bis jetzt noch nie in irgendeinem Fach durchgefallen ist –, sondern dass sie ihren Bruder wieder enttäuscht hat. Was bringt es, ihm sein Buch zu besorgen – falls sie es denn findet –, wenn sie ihm gleichzeitig das hier geben muss?
Sie wird seine Unterschrift fälschen müssen. Eigentlich merkwürdig, dass ihr bei diesem Gedanken übel wird.
Was bedeutet schon eine kleine Urkundenfälschung im Vergleich zu Mord?
»Sie bekommen sie morgen wieder«, sagt Willow. »Überhaupt kein Problem.«
»Wunderbar«, erwidert Ms Benson und verschwindet zwischen den Horden von Schülern, die den Flur bevölkern.
Willow stürzt aus der Schule und macht sich auf den Weg zur Buchhandlung – zu Fuß schafft sie es wahrscheinlich am schnellsten.
Sie ist so auf ihr Ziel fixiert, dass sie kaum etwas von dem mitbekommt, was um sie herum vorgeht. Sie hastet die Straße entlang, weicht immer wieder Passanten aus und stößt trotzdem mit einigen zusammen. Aber das kümmert sie nicht weiter, Hauptsache …
»Man kann sich ja wohl wenigstens kurz entschuldigen!«, reißt eine wütende Stimme sie aus ihren Gedanken. »Oh, hey, Willow, richtig?« Chloes Gesicht entspannt sich, als sie Willow erkennt. »Du hast vielleicht ein Tempo drauf!«
»Tut mir wirklich leid«, entschuldigt Willow sich etwas atemlos. »Ich bin nur … Ich muss dringend in die Stadt und hab nicht richtig aufgepasst, wo ich hinlaufe.« Sie blickt von Chloe zu Laurie.
»Da wollen wir auch hin«, sagt Laurie und nippt an ihrem Becher mit Eiskaffee. »Schnäppchenjagd«, fügt sie zwinkernd hinzu. »Ein ziemlich cooler Schuhladen hat heute Ausverkauf.«
»Schuhladen?« Willow wirft Laurie einen verblüfften Blick zu. Sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Laurie für ein Paar Schuhe die Schule schwänzen würde. »Habt ihr keinen Unterricht?«
»Wir haben in der letzten Stunde eine Freistunde, die wir eigentlich in der Bibliothek verbringen sollen, aber es kümmert sich niemand darum, ob wir da sind oder nicht«, erklärt Laurie.
»Hast du Lust, mitzukommen?«
»Ja … ich meine, nein.« Willow schüttelt den Kopf. »Ich muss zwar in die Stadt, hab aber keine Zeit, Shoppen zu gehen. Trotzdem danke.«
»Aber wenn du in dieselbe Richtung musst, können wir ja zusammen gehen«, meint Laurie.
»Okay«, stimmt Willow widerstrebend zu.
Sie fühlt sich wohler in ihrer Gesellschaft als das letzte Mal und hat auch nicht mehr ganz so viel Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Seit dem Nachmittag im Park hat sie das Gefühl, dass sie mit anderen Leuten ganz normal Zeit verbringen kann, ohne von ihnen komisch gefunden zu werden. Trotzdem wäre sie jetzt lieber allein. Sie hat einfach nicht den Kopf frei, um über Schuhe nachzudenken.
Wird es nicht sofort auffallen, wenn sie Davids Unterschrift fälscht? Wird ihre Schrift nicht zu sehr nach Mädchenhandschrift
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