Bis unter die Haut
das Glück hatte, mit der Hilfe meiner Eltern erwachsen zu werden, sie aber nicht.«
»Vielleicht.« Willow ist nicht wirklich überzeugt. »Aber das ist noch nicht alles. Ich gebe David, besser gesagt David und Cathy, einen Großteil von dem, was ich in der Bibliothek verdiene. Es ist echt nicht viel und reicht wahrscheinlich gerade mal für die Stromrechnung und vielleicht noch eine Packung Windeln. Ich glaube, Isabelle – meine Nichte – war nicht geplant.« Sie errötet erneut. »Und dass ich jetzt bei ihnen lebe, war noch viel weniger geplant. Plötzlich müssen sie mit diesen ganzen Extraausgaben klarkommen, und bis die Lebensversicherung meiner Eltern ausgezahlt wird, sind sie total drauf angewiesen, dass ich meinen Teil beisteuere. Aber David ist jedes Mal so wütend, wenn ich ihm das Geld gebe. Warum kann er mir nicht einfach sagen, dass es nicht genug ist?«
»Also, wenn du mich fragst, liegst du in dem Punkt total falsch.« Guy schüttelt den Kopf. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass er sich vielleicht schuldig fühlt, Geld von dir nehmen zu müssen?«
» Er soll sich schuldig fühlen?«, fragt sie ungläubig. »Wenn einer von uns beiden sich schuldig fühlen müsste, dann ja wohl ich!«
»Hat es damit zu tun? Ich meine, das Ritzen?« Er sieht sie an. »Weil du dich schuldig fühlst?«
»Überhaupt nicht«, widerspricht Willow heftig. Die Unterhaltung geht in eine Richtung, die ihr ganz und gar nicht gefällt. Sie hatte geglaubt, dass er mit seinen Versuchen, sie zu analysieren, durch wäre.
»Ist es …«
»Kann ich bitte meine Rasierklingen zurückhaben?«
»Sicher. In Ordnung. Wie du willst.« Guy setzt sich abrupt auf und sucht in seinem Rucksack danach.
»Tut mir leid, aber es fällt mir ziemlich schwer, darüber zu sprechen. Ich kann es dir einfach nicht erklären, ich weiß ja selbst noch nicht mal …«
»Vergiss es«, fällt er ihr ins Wort. »Ich kann es echt nicht fassen, dass ich dir die auch noch zurückgebe. Hier!« Er wirft ihr die vier Packungen Rasierklingen zu.
Sie reagiert nicht schnell genug, um sie aufzufangen und fühlt sich unglaublich gedemütigt, als die Packungen an ihr abprallen. Eine platzt auf und ihr blitzender Inhalt verteilt sich im Gras. Aber das Verlangen nach den Klingen ist größer als jede Demütigung, also krabbelt sie auf allen vieren auf dem Boden herum, bis sie auch die letzte wieder aufgelesen hat.
»Tut mir leid, das wollte ich nicht«, murmelt Guy. »Es ist nur – ich kapier’s einfach nicht, okay?«
»Ich kapiere es ja meistens selbst nicht.« Willow sieht ihn einen Moment lang schweigend an. Dann wendet sie sich ab und macht sich daran, die Rasierklingen in ihrem Rucksack zu verstauen.
»Du hast es nicht mehr getan, seit wir uns in der Bibliothek unterhalten haben, oder? Was hat dich davon abgehalten? Vielleicht solltest du versuchen herauszufinden, was genau der Auslöser dafür ist. Wie hast du es geschafft, dich unter Kontrolle zu halten?«
»Woher willst du wissen, was ich gemacht habe und was nicht?«, faucht sie. »Und wieso bildest du dir ein, mich so leicht durchschauen zu können?«
»Ach so, verstehe.« Guys Stimme ist sogar noch schneidender als ihre. »War wohl ziemlich dumm von mir, davon auszugehen, dass du deinen Teil der Abmachung einhältst, wenn ich mein Wort halte und deinem Bruder nichts erzähle.«
»Ich hab dir nie irgendwas versprochen«, entgegnet sie wütend.
»In Ordnung. Du hast recht. Nein, wirklich.« Guy hebt kopfschüttelnd die Hand. »Glaubst du, ich hätte vor dem Telefon gehockt und darauf gewartet, dass du anrufst? Sorry, aber da täuschst du dich gewaltig. Ich dachte nur, dass du jemand bist, der sein Wort hält, und bin echt froh gewesen, dass du dich nicht wieder geschnitten hast.« Er fährt sich seufzend durch die Haare. »Hör zu, das ist alles eine Nummer zu groß für mich. Ich kann versuchen, so etwas wie ein Freund für dich zu sein, aber mit dem Rest musst du allein klarkommen.«
»Ich hab mich nicht mehr geritzt, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« Plötzlich will sie unbedingt, dass er ihr glaubt, und wünscht sich nichts mehr, als dass er sie wieder so anlächelt wie vorhin. Sie hat keine Ahnung, wie ihre Unterhaltung diese Wendung nehmen konnte, aber sie weiß, dass sie es schrecklich findet.
»Gut.« Aber er klingt nicht so, als würde es ihn wirklich interessieren. Er steht auf und fängt an, seine Sachen zusammenzupacken.
»Geh bitte nicht«, sagt sie fast
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