Bis wir uns wiedersehen (German Edition)
einzelnen Titel als Live-Version auf Youtube wieder und wieder angesehen und sich auf den Abend heute wirklich gefreut. Außerdem waren die Karten schon bezahlt, und wenn schon eine verfallen musste, warum sollte es dann die zweite auch tun, erst recht, wo sie doch schon direkt vor dem Majestic stand. Sie beschloss, hinein zu gehen. Sie würde sich einfach sofort auf ihren Platz setzen und sich mit ihrem Handy beschäftigen.
Sie drehte auf dem Absatz um, um ins Theater zu gehen, als sie mit jemandem zusammenstieß, der hinter ihr gelaufen war.
"Oh, Verzeihung, das war meine Schuld", sagte sie und sah den Mann an, mit dem sie zusammengekracht war.
"Scarlett", sagte der verwundert und erfreut zugleich. Es war Charlie.
"Hallo", auch sie war erfreut.
"Na, verfolgen sie mich etwa", grinste Charlie. Er trug wieder dasselbe Parfum, Jean-Paul Gaultier, das er auch vor zwei Monaten getragen hatte und Scarlett fühlte sich, als wären seit ihrer letzten Begegnung nicht eine so lange Zeit vergangen.
"Wenn, dann verfolgen SIE wohl eher MICH", konterte sie, "immerhin waren sie dicht hinter mir, nicht umgekehrt!"
"Ich war mit ein paar Kollegen dort hinten in diesem Restaurant etwas essen", erklärte Charlie, als hätte er Scarletts Scherz ernst genommen. "Und sie, wollen Sie ins Theater!"
"Ja, ich habe Karten für die Musicalversion von Dracula!"
"Das Stück wird ihnen gefallen - ich hab es mir gerade vor zwei Wochen angesehen und war hin und weg. Seither läuft auf meinem iPod und in meinem Auto nur mehr der Soundtrack dazu. Von Kollegen werde ich schon seltsam angesehen", er lächelte. "Ich werde es mir auch bestimmt noch einmal ansehen, wenn es sich ergibt!"
Scarlett war überrascht. Jay reagierte meist genervt, wenn sie ihn bat, mit ihr ins Musical zu kommen und hatte es überhaupt erst zweimal gemacht, seit sie zusammen waren, und das auch nur, weil er ihr damit einen Gefallen tat und über seinen - in diesem Fall übergroßen - Schatten sprang. Er war überhaupt nicht der Typ, der sich für Kunst und Kultur interessierte, er konnte Museen nicht leiden, fand Musicals dämlich und war noch in keiner einzigen Broadway-Show gewesen. Wenn sie zu Hause etwas Klassik auflegte, verdrehte er die Augen und begann aus trotz, seine seltsame Rocksongs vom Anfang der Neunziger Jahre zu spielen, wo es längst keine guten Rocksongs - mit Ausnahme derer von Aerosmith - mehr gab. Als sie in Paris im Louvre gewesen waren und die Mona Lisa angesehen hatte, hatte er sich darüber beklagt, dass das Bild hässlich war und sich darüber Gedanken gemacht, in welchem Club es wohl scharfe Französinnen gab. Er mochte keinen Jazz und keinen Blues, dafür aber billig-aggressiven Rock. Wenn seine Freunde dabei waren, machte er sich über Scarletts Kulturinteresse und ihr Faible für Musicals lustig.
Für einen Moment waren beide still und blickten sich an. Mit jeder Sekunde, die Charlie vor ihr stand, auf einer Wellenliehn wurde Jay bedeutungsloser. Ihr wurde förmlich klar, dass Jay niemals auch nur annähernd der Richtige für sie sein konnte. Schon gar nicht im Vergleich zu Charlie, der den Dracula-Soundtrack auf seinem iPod hatte.
Charlie konnte sein Glück gar nicht fassen. In den vergangenen Tagen war auch er zwar wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt und hatte Wendys Nachteile unter den Teppich gekehrt, allerdings hatte er hin und wieder an seine Bekanntschaft von dem Wochenende vor zwei Monaten gedacht und war dann in eine seltsam-melancholische Stimmung verfallen, weil er sich gerne noch länger mit ihr unterhalten hätte. Er hatte auf Facebook nach Scarletts gesucht und nach den ersten einhundert mit der Suche aufgehört. Jetzt, wo sich die Gelegenheit bot, sie auf einen Kaffee einzuladen, war er wie gelähmt und brachte kein Wort heraus.
"Also...dann...sollten sie mal reingehen", sagte er, obwohl er ganz andere Worte aussprechen wollte, "der Einlass in den Saal ist in zehn Minuten!"
"Ja, das sollte ich wohl besser", sagte Scarlett und war enttäuscht, obwohl sie noch nicht einmal wusste, wovon. Sie war schon wieder dabei, Nettigkeit mit etwas anderem zu verwechseln und in dieser Zufälligen Begegnung Schicksal zu erkennen. Hatte sie tatsächlich gedacht, dass Charlie sie um ein Date bitten würde, hier mitten auf der Straße? Dass er tatsächlich nichts besseres zu tun hatte, als seine Zeit mit ihr zu verschwenden? Er hatte immerhin eine Freundin und bei ihm lief es vermutlich nicht so erbärmlich, wie in ihrer eigenen Beziehung.
Für
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