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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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draußen sehen konnte. Nur oben war ein kleines Stück Himmel sichtbar. Die Wand links vom Fenster wirkte wie nachträglich eingezogen, ein Türrahmen war in sie eingelassen, aber ohne Tür. Dahinter befand sich ein schmaler, fensterloser Verschlag mit einer Toilette und einer Dusche. Eine Rolle graues Toilettenpapier lag auf dem Boden, der hier wie auch im Zimmer aus braunem PVC -Belag bestand. Rechts war ein großes Bett – eine dicke Matratze auf einem weißen Sockel. Auf der Matratze lag kein Laken; kleine, mittelgroße und große Fleckenränder verliehen dem blauen, abgesteppten Schonbezug ein fraktales Muster. Neben dem Bett fanden sich mehrere Plastikflaschen mit Wasser, eine zusammengelegte Wolldecke und ein Plastikbeutel mit Toastbrot.
    Dann entdeckte Anna die Kamera. Sie war in der rechten hinteren Ecke an die Zimmerdecke geschraubt, ein schwarzes Glupschauge, kaum größer als ein Golfball. Ein Kabel ging von ihr ab und verschwand in der Wand.
    Sie setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und starrte auf den schmalen Streifen Himmel.
    Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte ihr Großvater erzählt, wie man die ersten Kosmonauten auf die Leere des Alls vorbereitet hatte: Jeder von ihnen war allein in eine fensterlose Kammer gesperrt worden, ohne dass er gewusst hätte, wann man ihn wieder herausließ. Es gab kein Radio, keine Bücher, keine Ablenkung, nichts, nur eine elektrische Glühbirne, die in unregelmäßigen Abständen an- und wieder ausgeschaltet wurde. Natürlich wusste jeder Kandidat, dass man ihn beobachtete, und natürlich hätte er an die Tür der Kammer klopfen und verlangen können, herausgelassen zu werden. Aber die Kosmonauten wussten ebenfalls, dass sie, sobald sie das taten, niemals in den Weltraum fliegen würden. Und so blieben nacheinander alle in der Kammer und versuchten, die Zeit, deren Dauer sie nicht kannten, herumzubringen. «Einer sang – er besang die Kabel und Schalter, die Staubflusen auf dem Fußboden, die Farbe seiner Fliegerkombination, die Bratpfanne, in der er sich einmal am Tag auf einem kleinen Brenner etwas zu essen kochen durfte», erzählte Annas Großvater. «Andere sagten Gedichte auf – von großen Poeten, aber auch solche, die sie im Kindergarten gelernt hatten. Einer versuchte, die wenigen Gegenstände, die sie den Kosmonauten in dieser Kammer gelassen hatten, immer wieder neu zu ordnen.»
    Auf dem Spielplatz vor dem Haus in Kiew, in dem sie damals wohnten, gab es eine Rutsche, und diese Rutsche sah wie eine Rakete aus. Man konnte in dieser Rakete eine Leiter hochklettern, dann durch eine große, runde Öffnung ins Freie steigen und zum Sandkasten hinabrutschen. Man konnte die Leiter auch noch ein wenig weiter hinaufklettern und gelangte so in das oberste Stockwerk des weiß-roten Blechraumschiffes, das der «Wostok»-Kapsel Gagarins nachempfunden war, und dort konnte man sich verstecken (obwohl alle Kinder des Wohnblocks dieses Versteck kannten) oder aber einfach auf dem Holzboden sitzen und durch das kleine Bullauge hindurch nach draußen schauen, über den Spielplatz, zu den Wohnblocks, zu den Hochspannungsleitungen und in den Himmel dazwischen, der manchmal blau war und manchmal graubraun wie das Wasser des Dnjepr. Oft, wenn sie des Spielens müde gewesen war, hatte sie sich dorthin zurückgezogen und sich Dinge vorgestellt: dass sie der letzte Mensch auf der Welt wäre, dass sie in der Rakete säße und darauf wartete, zu einem unbekannten Planeten ins All geschossen zu werden, oder aber dass ihr Raumschiff defekt wäre und sie, statt zurückzukehren, die Erde bis in alle Ewigkeit umkreisen müsste.
    Sie nahm die Wolldecke und rollte sich auf dem Boden unter dem Fenster zusammen, stellte sich vor, dass sie wieder in der Rakete wäre, an einem Nachmittag nach der Schule, umgeben vom Lärm der Kindheit.
     
    Ein Geräusch an der Tür weckte sie. Draußen, jenseits des Fensters, dämmerte es. War es Abend oder schon der Morgen des nächsten Tages? Sie hörte, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
    Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, mehr brauchte es nicht, dass die dünne Gestalt ins Zimmer schlüpfen konnte, obwohl sie ein kleines Tablett in der Hand hielt. Anna erkannte eine Frau oder wohl eher ein Mädchen mit dunklen, langen Haaren, T-Shirt und Jeans. Sie ging hinüber zum Bett, setzte sich und stellte das Tablett auf ihren Knien ab.
    «Komm», sagte das Mädchen, «du musst doch etwas essen.»
    Anna stand auf. Das Mädchen

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