Bis zum Ende der Welt
strich sich die Haare aus dem Gesicht, hob den Kopf und lächelte. Sie hatte ein schmales, ovales Gesicht mit hoch sitzenden Wangenknochen und einer spitzen Nase. Ansonsten war es unauffällig, wie Gesichter es sind, die man im nächsten Moment vergessen hat und auf der Straße nicht wiedererkennen würde. Ihre Finger- und Zehennägel hatte sie rot lackiert, aber sie war nicht geschminkt. Das einzig Auffällige an ihr war ein goldenes, mit kleinen Brillanten besetztes Armband, das sie am linken Handgelenk trug. Sie stellte das Tablett vor sich auf dem Boden ab und klopfte mit der rechten Hand aufmunternd neben sich auf die Matratze.
Anna setzte sich zu ihr.
Das Mädchen sagte: «Hallo. Ich heiße Jelena.»
Anna schwieg.
«Du bist Anna, ich weiß», sagte Jelena und kicherte, «ich weiß alles.» Sie beugte sich vor und hob einen Teller und einen Löffel vom Tablett.
Ein Geruch von gekochtem Fleisch zog zu Anna hin.
«Suppe, hier, iss.» Als Anna keine Anstalten machte, den Teller zu nehmen, flüsterte das Mädchen: «Es ist nichts drin, falls du das denkst», und aß selbst einen Löffel Suppe.
Zögernd nahm Anna den Teller und aß. In der Suppe schwammen große Fettaugen und Fleischstücke, aber sie schmeckte gut.
«Siehst du!», sagte Jelena triumphierend und beugte sich, nachdem Anna zu Ende gegessen hatte, wieder zum Tablett hinunter, auf dem noch ein Aschenbecher aus Aluminium, zwei Gläser und eine kleine Sektflasche standen. Erstaunlich schnell hatte sie die Flasche geöffnet und füllte die Gläser, bevor sie Anna eines reichte. «Es ist wirklich nichts drin, vertrau mir.»
Anna nippte am Sekt, Jelena nahm einen großen Schluck und schenkte sich sofort nach.
«Oh!», rief sie aus, «wie unhöflich!» Dann klaubte sie aus ihrer Jeans eine Packung Tabak und drehte geschickt zwei Zigaretten, von denen sie eine Anna gab.
Eine Weile lang saßen sie rauchend nebeneinander, bis Jelena leise weitersprach: «Ich bin deine Freundin. Vertrau mir. Sonst musst du ewig in so einem Zimmer bleiben. Nur nicht allein!» Sie kicherte wieder. «Es läuft so: Wiktor hat reiche Kunden, Männer, die eine Menge Geld verdienen, bloß keine Zeit haben, Mädchen kennenzulernen. Aber gerade deswegen wollen sie nicht, dass es so aussieht, als ob sie sich eine Frau kaufen würden, verstehst du, sie wollen, dass es einfach so geschieht, also veranstalten sie Partys, und Wiktor lässt uns dorthin bringen. Natürlich sollen wir den Männern Gesellschaft leisten, du verstehst, aber es ist wichtig für sie, dass wir es einfach so tun, und das ist es auch für Wiktor und für uns, weil wir dann alle mehr Geld bekommen und es uns gutgeht. Diese Männer sind nicht schlecht, glaube mir. Und wenn du Glück hast, dann verliebt sich eines Tages einer in dich, und ihr heiratet, und du bist dann sein Engel und lebst in einem schönen Haus mit Garten, und ihr habt Kinder und einen Hund und Angestellte, und alle Sorgen sind vorbei! Du musst nur den Richtigen treffen! Was guckst du so? Dafür bist du doch nach Deutschland gekommen, oder?»
Anna drückte ihre Zigarette aus. «Was, wenn ich nicht mitmache?»
Diese Frage schien Jelena zu verwirren. Sie drehte sich eine neue Zigarette. «Denk nicht, dass du sie austricksen und einfach weggehen kannst oder so, du hast keine Ahnung, was sie machen können. Wiktor gibt jedem Mädchen eine Chance, du darfst einmal mit, aber wenn du beim ersten Mal nicht mitmachst, dann musst du hier auf der Etage arbeiten, und das ist kein Zuckerschlecken, glaube mir, das ist wie in einer Hühnerfarm, jedes Zimmer ist so wie dieses, die Kerle sprechen dich noch nicht mal mit Namen an, du kriegst kein Lächeln, keinen Gruß, da heißt es spätestens ab dem Nachmittag: Ab auf die Matte, und da bist du dann die ganze Zeit, und dieses Zimmer ist das Einzige, was du siehst, und das ist so scheißlangweilig, so entsetzlich scheißlangweilig, dass du sterben willst.» Jelena leerte ihr Glas in einem Zug. «Glaube mir, wer einmal auf der Etage gelandet ist, schafft es nicht so leicht wieder raus.»
«Aber du hast es geschafft.»
Jelena lächelte verschwörerisch. «Wie hast du das erraten? Ja, habe ich. Weil ich mich verwandeln kann. Ich kann mich in alles verwandeln, was ich will.» Sie beugte sich noch weiter vor und flüsterte: «Eines Tages verwandle ich mich in einen Vogel und fliege davon.»
Anna saß allein auf dem Bett, als das Klopfen begann. Es kam von der Wand, an der das Bett stand, und klang, als würde
Weitere Kostenlose Bücher