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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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interessiert, für Igor vielleicht ein wenig, aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er dein Vater ist, sie war in diesen Major von der Werksfeuerwehr verliebt, der in jener Nacht Dienst hatte, der über die glühenden Trümmer lief und dabei diese eigenartige Euphorie verspürt haben muss, der zwölf Stunden später Blut kotzte und den sie zwei Tage später in die Strahlenklinik nach Moskau flogen, von wo er niemals zurückkehrte. Sie hatte was mit dem, da bin ich mir sicher, aber wer weiß, vielleicht hatte sie ja auch was mit Igor, es ist mir egal. Das ist alles längst vorbei, eine andere Zeit, ein anderes Jahrtausend, das Jahrtausend, in dem wir an einem See saßen, angelten und an die nächste Schicht dachten oder den nächsten Urlaub oder die nächste Geburtstagsfeier oder an die Art und Weise, wie wir die Fische zubereiten würden, als es plötzlich bumm machte. So schnell kann das gehen, Mädchen. Bumm! Eben angelst du noch, und dann ist alles vorbei.
    Wir haben versucht, den Brand zu löschen, die schwelenden Trümmer zu bergen und irgendwie dieses Loch zu füllen, diesen glimmenden Abgrund, der sich da in die Erde gefressen hatte, wochen-, monatelang. Der Reaktor hat alle verändert – manche äußerlich, sieh mich an, glaubst du vielleicht, ich war zu lange in der Sonne? Und andere im Inneren. Igor musste immer wieder dorthin, der Narr, meldete sich freiwillig, als wir längst alle versetzt worden waren, und tatsächlich, die Strahlung schien ihm nichts auszumachen. Haben sie dir keine Fotos gezeigt? Ach nein, sie haben dir ja lieber Märchen erzählt. Es gibt Fotos von ihm, da steht er wie ein Großwildjäger auf dem Dach des Reaktorgebäudes und hebt beide Fäuste. Ich weiß nicht, wem er damit etwas beweisen wollte, deiner Mutter vielleicht? War er eifersüchtig auf einen Toten? Igor der Held! Dafür bekam er ein paar Rubel Zulage und einen Blechorden», sagte Wiktor, und sein Gesicht, von dessen ledriger Haut ein angenehmer Tabakgeruch ausging, war dem ihren ganz nah, seine Stimme leise, sonor, beruhigend: «Man legt sich nicht ungestraft mit dem Teufel an. Der Reaktor hat ihm ein Bein genommen, damit er nicht vergisst, wer der Herr im Haus ist.»
    Er trat ein paar Schritte zurück und betrachtete Anna.
    «Du wirst den Kunden gefallen.» Er runzelte die Stirn. «Vielleicht behalte ich dich auch. Scheiß auf Igor, den alten Säufer. Er hat dich nicht verdient. Der ist am Ende. Warum solltest du zurückgehen? Hier kannst du reich werden. Weißt du, was ich damals gelernt habe, Mädchen? Es gibt kein Morgen, keine Zukunft. Wie man so sagt: Lass alle Hoffnung fahren.»
    Und mit diesen Worten verließ er das Zimmer ebenso lautlos, wie er eingetreten war.
     
     
    Wie viele Nächte war sie allein in dem Zimmer? Drei, vier, fünf? Eine ganze Woche? Perseus, Andromeda, Kassiopeia, Kepheus, Pegasus, das geflügelte Pferd. Einmal holten sie sie tagsüber ab und fuhren mit ihr in die Innenstadt, kauften in teuren Boutiquen teure Kleider, Jelena und sie, immer begleitet vom Fahrer und vom sonnenbrilletragenden Borys. Fuhrmann, die helle Kapella, ein Mehrfachsystem: ein Stern, um den ein Stern kreist, um den Sterne kreisen. An einem Abend durfte sie mit Jelena und drei anderen Mädchen in ein italienisches Restaurant essen gehen, bevor man sie später wieder in das Zimmer einschloss. Es war ein ausgelassener, beinahe fröhlicher Abend. Eines der Mädchen tanzte nach dem Essen auf dem Tisch, reckte stolz ihren linken Arm in die Höhe. Sie trug das gleiche Armband wie Jelena.
    Einhorn, Fische, Wasserschlange, bum-bum-bum machte es in der Dunkelheit.
     
    Sie hätte sie beinahe nicht wiedererkannt, so verändert sah sie aus: Jelena trug ein eng anliegendes, sandfarbenes Kostüm, hochhackige Schuhe, eine weiße Bluse. Ihr Busen war durch einen speziellen BH zu riesigen, die Proportionen ihres schlanken, fast hageren Körpers verzerrenden Ausmaßen gewachsen, ihre Lippen hatte sie zu einem großen roten Schmollmund geschminkt. Sie trug eine Brille und außer dem Armband eine teuer wirkende Halskette aus Perlen.
    Zusammen mit zwei weiteren Mädchen wurden Anna und sie von Borys und dem Fahrer in einen schwarzen Van bugsiert. Kaum waren sie eingestiegen, reichte Borys ein Tütchen nach hinten, und Jelena streute das Kokain auf ihren Handspiegel, sog mit einem silbernen Röhrchen etwas davon in ihre Nase. Sie schniefte, dann fragte sie Anna, ob sie auch wolle, aber Anna schüttelte den Kopf, und das Tütchen wanderte

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