Bis zum Ende der Welt
Tür entdeckt hatte und nun schon wer weiß wie lange hinter ihr stand. Andererseits erschrak sie auch nicht.
Vor ihr türmte sich Spielzeug: ein halb verrottetes Indianerzelt, ein Bobbycar und ein Tretroller, der hinter dem leeren Öltank an der Wand lehnte. Sie drückte die Klingel am Lenker, und ein knarziges, rasselndes Ringering erklang.
«Bitte nicht.»
«Gehört das deinem Sohn?»
Er schwieg. Stand einfach in der Tür und sah durch sie hindurch. Dann setzte er sich langsam, beinahe vorsichtig, als wären seine Knochen aus Porzellan, auf die Betonstufe. Ganz leise war seine Stimme, als er zu reden anfing.
«Wir waren glücklich, und irgendwann waren wir es nicht mehr. Wir haben uns getrennt, als er noch klein gewesen ist. Man kann auch sagen, dass ich sie sitzengelassen habe. Ja, das kann man wohl so sagen. Ich habe meine Frau mit unserem kleinen Sohn sitzengelassen. Ich brauchte meine Freiheit. Habe ich damals geglaubt. Vielleicht wollte ich auch nur allein sein. Manchmal ist es besser, wenn Menschen allein bleiben. Besser für sie selbst und für die anderen. Am Anfang habe ich ihn noch öfter gesehen, aber dann nicht mehr. Er verschwand einfach nach und nach aus meinem Leben. Ich habe es gar nicht richtig gemerkt. Irgendwann schickte ich ihm nur noch zweimal im Jahr Geld. Zum Geburtstag und zu Weihnachten. Kauf dir was Schönes, Junge. Als er gerade neunzehn war, hatte meine Frau den Unfall. Auf der Autobahn. Ein Betrunkener an einer Baustelle. Sie lebte noch drei Tage, lag im Koma. Mein Sohn war damals schon aus dem Haus. Er war nicht mit im Auto gewesen. Drei Tage lang saß er neben ihrem Bett. Sie ist nicht mehr aufgewacht.»
«Und wo warst du?»
«Nicht da.»
«Was hast du gemacht?»
«Turbinen verkauft.»
«Ich dachte, du bist Ingenieur?»
«Ich war damals hauptsächlich im Verkauf. Bei einer amerikanischen Firma. Wir haben Kraftwerksturbinen verkauft. In die ganze Welt. Asien, Afrika, Südamerika und eben … Portugal. Als sie starb, war ich in Indonesien. Wegen Halley, dem Kometen. Wenn man Glück hat, kann man ihn einmal im Leben sehen. Hatte ich extra so eingerichtet.»
«Und jetzt?»
«Da du mich immer noch für einen Serienkiller hältst, ist es vielleicht das Beste, wenn du das Weite suchst.»
Sie schüttelte den Kopf. Dann nahm sie das Kinderfahrrad und ging Richtung Tür.
«Was hast du damit vor?», fragte er.
«Die Frage ist – was hast
du
damit vor? Willst du, dass dein Sohn hier eines Tages reinkommt und das alles findet?»
Sie ging hinaus in den Garten, an die Koniferenhecke, hinter der der Sohn der Mieter des Nachbarhauses gerade seine Purzelbäume schlug. Seine Eltern saßen in den Liegestühlen am Pool, in dem sie allerdings nicht schwammen, weil das Wasser ihrer Ansicht nach kalt und übermäßig gechlort war.
«Nicht so wild!», rief der Vater.
«Und nichts von den Pflanzen essen!», rief die Mutter.
«Hey, psst!», flüsterte Anna.
Durch das Geäst der Koniferen sah sie, wie der Junge sich vorsichtig umblickte und dann an die Hecke kam.
«Wie heißt du?», fragte sie.
«Justus.» Er dachte nach. «Aber ich darf nicht mit Fremden sprechen.»
Anna schwieg.
«Wer bist du?»
«Ich bin die gute Fee.»
«Wirklich?»
«Ja.»
«Darf ich mir jetzt was wünschen?»
«Nein.»
«Aber …»
«Pssst! Kannst du Roller fahren?»
«Nee.»
Sie schob den Tretroller durch die Sträucher.
«Dann lern es.»
Zwei Tage später kam sie morgens die Treppe hinunter, und Laska war nicht da. Der große Tisch war noch genauso leer wie am Abend zuvor. Sie suchte nach ihm, rief nach ihm, warf einen Blick in die Garage: Das Auto stand noch da. Sie ging durch den Garten zum Observatorium, doch es war verschlossen. Von Laska fehlte jede Spur.
Sie fand ihn im Bad, das sich an sein Schlafzimmer anschloss. Zusammengekrümmt kniete er vor der Badewanne, stöhnte. In der Wanne schleimig erbrochenes Blut. Sie solle rausgehen, sagte er, es gehe gleich wieder, nur rausgehen solle sie, es sei gleich vorbei, endlich rausgehen solle sie, verdammt noch mal, raus endlich, und sie ging hinaus und hockte sich neben die Tür, hörte alles und wartete beinahe eine halbe Stunde, bis er aus dem Badezimmer trat, mit einem Gesicht wie aus Pergament, leicht schwankend.
Sie bestand darauf, dass sie gemeinsam zum Arzt fuhren.
Der Arzt hatte seine Praxis im Gebäudekomplex des Einkaufszentrums an der Kreuzung, im hinteren Teil zwischen zwei leerstehenden Ladengeschäften. Ein Schild wies den
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