Bis zum Ende der Welt
angeblichen Spezialisten als Allgemeinmediziner aus, und ein Aufsteller, wie er sonst vor Touristenrestaurants steht, warb neben dem Eingang damit, dass auch Holländisch, Englisch und Deutsch gesprochen werde.
«Du hast gelogen», sagte Anna, als sie im Wartezimmer saßen, in dem sie sich der großen Fenster wegen, die auf die Einkaufspassage hinausgingen, wie Ware in einer Auslage vorkam. «Der ist gar kein Spezialist. Für gar nichts.»
«Er spricht mehrere Sprachen», sagte Laska.
Der Arzt war ein großer, dunkelhaariger Mann Anfang fünfzig, der mit seiner rechten Augenbraue spektakuläre Auf-und-ab-Bewegungen vollführen konnte, die seine Patienten vielleicht vom Scharfsinn seiner Diagnosen überzeugen sollten. Ohne um Erlaubnis zu fragen, war Anna Laska ins Behandlungszimmer gefolgt, und nun saßen sie wie ein Ehepaar auf dem Amt vor dem Schreibtisch des Arztes. An der Wand hinter ihm hing eine Schnittzeichnung des menschlichen Körpers neben einem Fenster, durch das der Parkplatz des Einkaufszentrums zu sehen war, über dem sich blassblau und gleichgültig der Himmel wölbte.
Der Arzt kontrollierte Laskas Blutdruck und studierte frühere Untersuchungsergebnisse, und Anna fragte sich, ob er verstand, was er da las. Dann machte er sich Notizen, griff in die Schublade seines Schreibtisches, kramte darin herum, zog eine Visitenkarte hervor und schrieb etwas darauf. Obwohl Laska Portugiesisch sprach und mittlerweile auch Anna ein wenig verstand, sagte er in brüchigem Deutsch: «Sie gehen Spezialist.»
«Danke. Ich will zu keinem Spezialisten.»
«Keine Sorge, Ihre Kasse in Ordnung.»
«Ich brauche keinen Spezialisten. Sie sollen mir nur diese Medikamente verschreiben, so wie’s da steht.»
«Ist deutsche Spezialist mit Praxis hier. Kasse zahlt, keine Sorge.»
«Sie reichen mir als Arzt.»
«Spezialist schreibt Rezept, Kasse zahlt.» Er lächelte und hielt Anna die Visitenkarte des Spezialisten hin. «Sie Tochter? Kasse zahlt alles, keine Sorge. Spezialist deutsch, anerkannt von Versicherung, zahlt auch, wenn kommt zu Papa, sehr nett.»
Anna nahm die Visitenkarte entgegen.
«Sie sagen, dass von mir, ja?», rief der Arzt ihnen hinterher, als sie die Praxis verließen. «Ich meinen Namen draufgeschrieben, Sie sagen Spezialist, dass von mir, wichtig, dass von mir kommen, ja?»
Der Spezialist erinnerte Anna an eine deutsche Krankenhausserie, die sie sich als Kind an grauen, planlos verbrachten Wintersonntagen zusammen mit ihrer Großmutter im Fernsehen angeschaut hatte. Wie so viele andere war auch diese nicht richtig synchronisiert gewesen – während man im Hintergrund die deutschen Stimmen hören konnte, wispernd, fremd, geheimnisvoll, sprach ein und derselbe Mann die russische Übersetzung darüber, in einem monotonen Singsang. So hatte Anna ihre ersten Sätze Deutsch gelernt: Ich muss Ihnen eine schlechte Nachricht überbringen – Sie kennen die Diagnose – Ich liebe dich – Sie müssen jetzt sehr stark sein – Ich werde dich nicht verlassen – Die Prognose ist ungünstig.
«Warum sagt der Doktor: ‹Sie müssen jetzt sehr stark sein›?»
«Weil er gleich eine schlechte Nachricht überbringen wird.»
«Hilft es denn, wenn man stark ist?»
«Ich weiß nicht, denke schon.»
«Was ist die schlechte Nachricht?»
«Hast du nicht zugehört?»
«Ich hab’s nicht verstanden.»
«Dass die Prognose schlecht ist.»
«Was ist eine Prognose?»
«Ich möchte jetzt den Film sehen.»
«Was ist eine Prognose?»
«Ich verstehe nichts, wenn du dauernd dazwischenplapperst.»
«Aber was ist denn nun eine Prognose?»
«Das ist die Zukunft.»
«Und die ist schlecht?»
«Hat der Arzt gesagt.»
«Aber Starksein hilft?»
Der Spezialist kam in einem Sportwagen mit offenem Verdeck die Hügelstraße heraufgebraust. Vor Laskas Garagenauffahrt bremste er scharf, stieg aus und schaute auf die Uhr. Anna stand bereits in der Tür, als er die flachen Stufen hochstieg, er reichte ihr die Hand. Dr. Winther, so hieß er, hatte sehr weiße, gerade Zähne, einen braunen Teint und volles, in der Mitte gescheiteltes dunkelblondes Haar. Er roch nach einer Mischung aus Sonnenöl und Rasierwasser.
In der halben Stunde, während der er mit Laska sprach, saß sie tatenlos auf der Terrasse. Gelangweilt beobachtete sie, wie sich weit draußen über dem Meer eine Wolkenfront zusammenballte. Dann ging er. Sie fing ihn an seinem Auto ab und fragte: «Wie viel Zeit hat er noch?»
«Das kann niemand so genau sagen.»
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