Bis zum Hals
Alkoholikerinnen unseres hochbauenden kleinen Gemeinwesens sich in der Etage oder Tür oder sonstwie geirrt hatte, und, in Erwartung größerer Klarheit nach Abebben des momentanen Rauschzustandes, einfach an Ort und Stelle zusammengesackt war.
Der Koffer passte da nicht ins Bild, genauso wenig wie, bei näherem Hinsehen, ihre gesamte Erscheinung. Sehr zierlich, war der erste Eindruck, und sehr ordentlich, der zweite. Etwas widersprüchlich, der dritte.
Sie trug Jeans, dazu blankgeputzte Schuhe mit flachen Absätzen hinten drunter und ledernen Schleifen vorne drauf. Beine und Füße auch im Schlaf dicht beieinander, Knie angezogen, gehalten von schmalen Händen, die Nägel akkurat gefeilt, aber nicht lackiert. Oder wenn, dann farblos. Zur Jeans trug sie eine schlichte, weiße Bluse, und über der Bluse eine graue Jacke aus, tja. Filz? Loden? Keine Ahnung. Dieses steife Material eben, das im Süden unserer Republik als Synonym für Heimatverbundenheit getragen wird und im Rest des Landes als Bekenntnis zur rechten Gesinnung. Wenn auch eher selten in Kombination mit einer in Rot und Gold gehaltenen Ferrari-Kappe. Der Mützenschirm verbarg das Gesicht meiner schlafenden Türblockade bis auf ihr schmales Kinn und einen Mund mit einer Unterlippe, so prall, so weich, so mädchenhaft, so, tja, unschuldig, dass Nabokov wahrscheinlich schon bei ihrem bloßen Anblick spontan in seinen Feinripp ejakuliert hätte.
Vorsichtig beugte ich mich vor. Ein Paar dichter, dunkler Wimpern schmiegte sich um hohe, blasse Wangenknochen. Wer immer diese Frau war, ich kannte sie nicht, hatte sie nie getroffen und schon gar nicht bestiegen.
Was nun? Sie wecken? Hm. Lieber nicht. Nicht jetzt. In einer halben Stunde – vielleicht. Eine halbe Stunde im Bad, eine halbe Stunde Gelegenheit, wenigstens zu versuchen, mich einigermaßen präsentabel herzurichten. Ich hätte Gott weiß was dafür gegeben.
Scheiß drauf, ich probier’s, sagte ich mir, drückte mit dem Zeigefinger sachte gegen das Türblatt, der in den Spalt geklemmte Bierdeckel fiel herunter, die Tür schwang auf, der Koffer kippte um, die verdammte Katze jankte los und meine Besucherin erwachte mit einem Ruck, sah zu mir auf und raubte meinen Knien die Statik.
Große Augen vom dunkelsten Braun, tausendfach gesprenkelt mit Kupfer. Augen, in die man den Blick versenken konnte wie in einen neuen, unbekannten Nachthimmel, Augen, in die man eintauchen konnte wie in ein anderes, ein wärmeres Universum als der uns umgebende, fühllose Raum.
Erste Eindrücke prägen für immer, sagt man. Ich weiß nicht, was sie in mir sah – verschwitzt, verquollen, stoppelbärtig, die Glubschkugeln rot geädert und schwarz umrandet, die Hosenfront pissegelb, die ganze Gestalt schwankend wie ein Mast in der Dünung und zittrig wie eine Pflasterramme, fehlte eigentlich nur noch, dass mir der Sabber vom Kinn tropfte – es kann jedenfalls nicht wirklich vorteilhaft gewesen sein, doch entlockte ihr mein Anblick erst mal nicht mehr als ein erstaunt klingendes »Oh.« Erstaunt. Nicht abgestoßen, nicht verstört, sondern erst mal nur durchaus milde verwundert. Ganz so, als ob man ihr mich noch wesentlich schlimmer beschrieben hätte. Als ob sie mit Hufschmidt über mich geredet hätte.
Sie machte Anstalten, auf die Füße zu krabbeln, also reichte ich ihr meine Hand und half ihr hoch. Sie wog nichts. Sie war so leicht wie ein zum Vogelflug konstruiertes Wesen und wirkte dabei so zerbrechlich, dass mich spontane Gluckenhaftigkeit überkam, ein unwillkürlicher Wunsch, sie zu füttern, ihr irgendwas zu essen in den Schnabel zu stopfen.
Ein absurder Gedanke bei einem Mann mit gerade mal einer angebrochenen Tube Senf und einem ebenfalls nicht mehr vollständigen Sixpack im Kühlschrank.
»Sind Sie Kristof Kryszinski?«, fragte sie und senkte den Blick auf meine Hand, die immer noch die ihre gepackt hielt. Ich ließ los, nickte mehrfach und wunderte mich derweil, seit wann mir eigentlich die Zunge am Gaumen angewachsen war.
»Sie sehen furchtbar aus«, stellte sie fest. Ohne Vorwurf, ohne Verachtung. Es klang eher … besorgt.
Besorgt. Irgendetwas gab nach, in mir. Wie wenn ein Fundament nachgibt, oder ein Damm, eine Staumauer.
»Ich … ich fühl mich auch furchtbar«, brach es aus mir heraus. »Ich … ich hab vor drei Tagen einen Mann angefahren, und seither läuft irgendwie alles aus dem Ruder, die Polizei glaubt mir kein Wort, ich komme kaum noch zum Schlafen, baue nur Mist, und anstatt den
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